Von der Kürze des Lebens – Seneca und die Kunst, unsere beschränkte Lebenszeit richtig zu verbringen

Geschriebenes

denkbrocken_seneca.jpg„Die Nützlichkeit des Lebens liegt nicht in seiner Länge,“ wie Michel de Montaigne (1533-1592) eloquent erklärte, „sondern in seiner Anwendung. Mancher zählt viele Jahre, und hat doch nur kurze Zeit gelebt.“ Trotzdem tendieren wir dazu, unsere Tage in einer ständigen Geschäftigkeit zu verbringen. Bereits Kierkegaard (1813-1855) meinte: «Von allen lächerlichen Dingen will es mir als das lächerlichste vorkommen, in der Welt emsig beschäftigt zu sein, ein Mann zu sein, der muntren Mutes und eilig bei seinem Geschäfte ist.»
In einer Welt, in der Produktivität belohnt wird, wird es immer schwieriger, Machen und Sein zu unterschieden. Die Frage stellt sich, ob man am Ende eines produktiven Lebens wirklich gelebt hat, oder nur gelebt wurde.

Vor rund 2000 Jahren thematisierte der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca in seiner wunderbaren Abhandlung «Von der Kürze des Lebens» die Kunst, richtig anstatt lang zu leben. Je weiter unsere Lebenserwartung steigt, desto dringlicher scheint die ewige Frage, wie wir unsere Zeit verbringen. Denn so lange unser Leben auch dauert, es «wird doch auf eine Winzigkeit zusammenschrumpfen». Es spielt keine Rolle wie viel Zeit uns zur Verfügung steht, sondern wie wir damit umgehen. Jedes Leben scheint kurz, wenn wir es verfliegen lassen. Seneca schreibt:

«Nicht das Leben, das wir empfangen, ist kurz, nein, wir machen es dazu; wir sind nicht zu kurz gekommen; wir sind vielmehr zu verschwenderisch.»
(…)
«Wie steht’s also damit? Ihr lebt, als würdet ihr immer leben; niemals werdet ihr eurer Gebrechlichkeit euch bewußt; ihr habt nicht acht darauf, wieviel Zeit bereits vorüber ist; ihr verschwendet sie, als wäre sie unerschöpflich, während inzwischen gerade der Tag, der irgend einem Menschen oder einer Sache zuliebe hingegeben wird, vielleicht der letzte ist. Ihr fürchtet alles, als wäret ihr nur sterblich; ihr begehrt alles, als wäret ihr auch unsterblich.»

Wie sparsam der Mensch sein kann, zeigt unser Umgang mit Geld und Materialen. Was aber die Zeit – unsere wertvollste Ressource – angeht, die verschwenden wir, als wäre sie endlos. Seneca schreibt:

«Es findet sich keiner, der sein Geld austeilen möchte; sein Leben dagegen, unter wie viele verteilt es ein jeder! Ihr Vermögen zusammen zu halten, sind sie immer eifrig beflissen; handelt es sich aber um Zeitverlust, so zeigen sie sich als die größten Verschwender da, wo der Geiz die einzige Gelegenheit hat, in ehrbarer Gestalt aufzutreten.»

Wir «empfinden den Schaden nicht, und darum ist (uns) der Verlust erträglich». Was wir anderen an Zeit anbieten ist, – nach Seneca – «für die Empfänger kein Gewinn», für uns aber ein Verlust. In anderen Worten: Wir können unsere Zeit nicht verschenken, wir können sie nur verlieren:

«Man bittet um sie, als wäre sie nichts; man gewährt sie als wäre sie nichts. Mit dem allerkostbarsten Besitz geht man um, wie mit einem Spielzeug. Die Täuschung kommt daher, dass die Zeit etwas unkörperliches ist und nicht mit dem Auge wahrgenommen wird; daher die geringe Achtung, in der sie steht, ja ihre völlige Wertlosigkeit.»

Seneca warnt vor dem zweischneidigen Schwert des ambitionierten Strebens. Man wird blind gegenüber dem, was wirklich bedeutend ist und verfällt in Selbstzweifel, Unzufriedenheit und Anklammerung:

«Mühsam erringen sie, was sie wünschen; angstvoll halten sie fest, was sie errungen haben. Dabei lassen sie die nimmer wiederkehrende Zeit achtlos dahinschwinden. Neue Beschäftigungen lösen die alten ab, eine Hoffnung erweckt die andere, ein Ziel des Ehrgeizes wechselt mit dem anderen. Nicht dem Elend ein Ende zu machen ist man bestrebt, man sucht nur immer neue Anlässe dazu.»

Noch schädlicher ist es allerdings, wenn wir diese geschäftige Zeit nicht in unsere eigenen Ziele investieren, sondern für die Wünsche anderer aufgeben:

«Alle Geschäftsleute sind in einer beklagenswerten Lage; am beklagenswertesten aber ist die Lage derjenigen, die sich nicht einmal mit Geschäften für sich selbst abarbeiten. Ihr Schlaf richtet sich nach dem Schlaf anderer, ihre Schrittführung nach dem Schritt anderer, ja, selbst in ihrem Lieben und Hassen, diesen freiesten aller Seelenregungen, sind sie ganz an den Befehl eines anderen gebunden. Wollen diese Leute wissen, wie kurz ihr Leben sei, so mögen sie nur daran denken, welch winziger Teil davon ihnen selbst gehört.»

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«In drei Zeiten teilt sich das Leben: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Von ihnen ist die, in der wir stehen, kurz, die, welche uns bevorsteht, zweifelhaft, die, die wir hinter uns haben, gewiss, denn sie ist es, an welche das Schicksal sein Anrecht verloren hat und die keines Menschen Wille rückgängig machen kann.»

Die Wertschätzung unserer einen Zeit ist laut Seneca der Schlüssel zu einem glücklichen Leben. Wer nicht mit der Zeit umgehen kann, der verspielt nicht nur den Moment, sondern sein ganzes Leben:

«Dagegen ist das Leben derer sehr kurz und sorgenvoll, die das Vergangene vergessen, die Gegenwart verträumen und vor der Zukunft Angst haben; sind sie ans Ende gekommen, so sehen sie, diese Bedauernswerten, zu spät ein, dass sie so lange beschäftigt gewesen sind, ohne doch etwas zu tun.»

Seneca beschreibt die Vergangenheit als unser Eigentum. Sie ist definitiv, kann uns nicht mehr enteignet oder verleumdet werden. Deshalb sollen wir uns jetzt eine Vergangenheit schaffen, an der wir uns in Zukunft erfreuen können. Seneca schreibt:

«Und doch ist über diesen Teil unserer Zeit die Weihe des himmlischen Friedens ausgebreitet; ist er doch allen menschlichen Zufällen entrückt und der Herrschaft des Schicksals entzogen, gesichert vor Mangel, vor Furcht, vor Krankheitsanfällen; er kann nicht gestört, uns nicht entrissen werden; sein Besitz ist dauernd und frei von jedem Angstgefühl. Der Gegenwart gehört immer nur ein Tag um den anderen und auch dieser nur von Augenblick zu Augenblick; aber die Tage der Vergangenheit werden auf euer Geheiss euch sich sämtlich zur Verfügung stellen und sich nach eurem Belieben betrachten und festhalten lassen, wozu diese Geschäftsmänner keine Zeit haben.»

Die Gegenwart hingegen ist so flüchtig, dass wir ihr unsere volle Aufmerksamkeit und Konzentration schenken müssen:

«Die Gegenwart ist nur ganz kurz, so kurz, dass sie manchen wie ein Nichts erscheint; sie eilt immer weiter, fliesst dahin und kommt nicht zur Ruhe; sie hört eher auf als sie kam, und duldet ebensowenig einen Verzug wie das Weltall oder die Gestirne, deren rastlose Bewegung niemals auf demselben Punkt innehält.»

Prokrastination ist nach Seneca die grösste Sünde im Umgang mit der kostbaren Zeit. Viele sparen sich ihr Leben für später auf und setzten sich in den Kopf, «das Leben zu beginnen, an dem Punkt, bis zu dem es nur wenige bringen.» Doch alles, was noch kommt, liegt im Ungewissen. Wir leben nur in diesem Moment und können nur jetzt wirken, bedeuten, verändern. Seneca schreibt:

«Der grösste Verlust für das Leben ist die Verzögerung. Sie entzieht uns immer gleich den ersten Tag, sie raubt uns die Gegenwart, während sie Fernliegendes in Aussicht stellt. Das grösste Hemmnis des Lebens ist die Erwartung, die sich an das Morgen hängt und das Heute verloren gibt. Was in der Hand des Schicksals liegt, darüber verfügst du; was in der deinen liegt, das lässt du fahren.»

Senecas Beobachtungen zum menschlichen Streben nach Vergnügen und Befriedigung decken sich mit den modernen Erkenntnissen der Psychologie. Was Seneca als Negativspirale der Genusssucht beschreibt, ist auf neuronaler Ebene als Downregulation der Nervenzellen bekannt. Eine «Glückseligkeit» veranlasst die Freilassung des Neurotransmitters Dopamin im Zentralnervensystem. Dopamin stimuliert und erregt die umliegenden Neuronen – wir fühlen eine temporären Hit. Allerdings tendieren Nervenzellen, die zu oft und zu stark erregt werden, dazu, abzusterben. Gegen diese Degeneration hat unser Körper einen Verteidigungsmechanismus entwickelt. Damit die Neuronen weniger empfindlich auf das Dopamin reagieren und somit den Schaden reduzieren, wird die Rezeptorendichte der Zellen vermindert. Das bedeutet, wenn Dopamin ausgeschüttet wird, dann sink die Anzahl an Rezeptoren. Das nächste Mal wird also mehr Dopamin benötigt um den gleichen psychologischen Effekt zu erzielen. Das Stimulans muss immer stärker werden, weil unsere Toleranz immer weiter steigt. Wie Seneca beschreibt, muss so auf eine «Glückseligkeit», eine immer grössere «Glückseligkeit» folgen. Wünsche bringen keine Erfüllung und Erwartung nur Enttäuschung:

«Je grösser das Gute ist, um so sorgenvoller ist es, und für keine Schicksalslage ist es weniger ratsam, Vertrauen zu hegen, als für die glücklichste. Um die Glückseligkeit zu schützen, bedarf es einer weiteren Glückseligkeit, und für die erfüllten Wünsche bedarf es neuer Wünsche. Denn alles, was wir dem Zufall verdanken, ist ohne Bestand, und je ansehnlicher die Höhe ist, zu der es sich erhebt, um so mehr neigt es zum Untergang.»

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Wie zu vermuten, ist für Seneca das Sterben nach Weisheit die einzige, sich lohnende Beschäftigung:

«Der Musse wirklich ergeben sind überhaupt nur die, die ihre Zeit der Weisheit widmen; denn sie allein führen ein wirkliches Leben; sind sie doch nicht nur gewissenhafte Hüter ihrer eigenen Lebenszeit, sondern fügen auch den gesamten zeitverlauf ihrem Leben hinzu; alles Schaffen vorangegangener Jahre ist ein Erwerb auch für sie.»

Wer nach Weisheit strebt, der weiss nicht nur den Moment sinnvoll zu nutzen, sondern dem gelingt es auch, die menschlichen Barrieren zu durchbrechen und sich auf unbekannte Höhen aufzuschwingen:

«Zu den herrlichsten Schätzen, die durch die Bemühungen anderer aus der Finsternis ans Licht gezogen sind, werden wir geführt; kein Zeitalter ist uns verschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir im Geistesflug uns über die Schranken menschlicher Schwachheit erheben wollen, so öffnen sich uns lange Zeiträume, die wir durchwandern können.»

Die Weisheit zieht uns nicht nur wie ein Kran aus dem Treibsand des Lebens, sondern ist auch der Universal-Schlüssel zu allem geschlossenen Türen, auf die wir stossen werden:

«Alles zerstört der Zahn der Zeit und lässt nichts unberührt. Aber dem, worauf die Weisheit ihr Siegel gedrückt hat, kann die Zeit nichts anhaben.»

Der Weise, als Ideal von Sencas philosophischer Vorstellung, steht für den Inbegriff der Kontrolle der Zeit:

«Lass eine Zeit vorüber sein: er umspannt sie mit seiner Erinnerung; lass sie gegenwärtig sein: er nutzt sie aus; lass sie zukünftig sein: er macht sie im Voraus sich zu eigen. Die Zusammenfassung alles Zeiten macht ihm das Leben lang.»

Die Zeit unter Kontrolle zu haben, bedeutet, das Schicksal unter Kontrolle zu haben. Wer weiss, wie mit der Zeit umzugehen, der weiss, wie mit dem Leben umzugehen. Ein Leben – richtig ausgenutzt – reicht nicht nur aus, um Menschenmögliches zu erreichen und gut zu leben, sondern auch um gut sterben zu können:

«Sei (das Leben) also auch noch so kurz; es reicht doch reichlich aus, und darum wir der Weise, wann auch immer der letzte Tag kommt, nicht zögern, festen Schrittes in den Tod zu gehen.»

Seine leibliche Familie kann man sich nicht aussuchen. Wir können allerdings entscheiden, mit wem wir unsere Zeit verbringen. Wir können – neben unseren Blutsverwandten – einer zweiten, geistlich verwandten, philosophischen Familie beitreten:

«Wir pflegen zu sagen, die Wahl unserer Eltern stehe nicht in unserer Macht, der Zufall sei es, der sie den Menschen gebe. Nein! Die Verfügung über unser Dasein liegt in unserer eigenen Hand. Es gibt Familien der edelsten Geister. Wähle, in welche du dich aufgenommen sehen willst; nicht etwa nur der Name wird auf dich übertragen werden, sondern all das Gute selbst, was ihnen gehört, und das will nicht mit schmutzigem Eigennutz behütet sein, nein, es wird sich umso stärker vermehren, je grösser die Zahl derer ist, die du daran teilnehmen lässt. Sie werden dir den Weg zu Ewigkeit weisen und dich emporheben, zu jener Stelle, aus der Niemand verdrängt werden kann. Das ist die einzige Möglichkeit, die Grenzen der Sterblichkeit zu erweitern, ja sie in Unsterblichkeit umzuwandeln.»

Der Moment ist unser kostbarster Schatz. «Jeder menschliche Herzschlag», wie Gregory Roberts schreibt, «ist eine Welt voller Möglichkeiten.» Vorausgesetzt, wir wissen wie damit umzugehen:

«Aber der, welcher keinen Augenblick vorübergehen lässt, ohne ihn zu seinem Heil zu verwenden, der jeden Tag so nützlich verwendet, als ob es der letzte wäre, erwartet den morgigen Tag weder mit Verlangen, noch mit Furcht. Denn was für einen neuen Genuss könnte ihm denn irgend eine Stunde bringen? Alles ist ihm bekannt, alles gründlich durchgekostet. Was das übrige anlangt, so mag das Schicksal nach Belieben darüber entscheiden: Sein Leben ist bereits in Sicherheit. Ein Zuwachs ist noch möglich, ein Abzug nicht.»

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