Eine kurze Geschichte über das Vergessen – TEIL 1

Geschriebenes

Ich stand auf dem Peron im Hauptbahnhof Zürich und wartete. Mit dem einfahrenden Zug, lächelte mir von weitem ein bekanntes Gesicht entgegen. Sie stand ungefähr 50 Meter von mir entfernt in der Menschentraube vor der bremsenden Schiebetür. Ich wollte nicht unhöflich sein und steig nach ihr in denselben Wagen ein. Nachdem sich die Menge an uns vorbei gedrückt hatte, hatten wir Raum und Luft, uns richtig zu begrüssen.

Sie war mit mir zur Schule gegangen. Hatte dunkle, grosse Augen, braune Haare und ein hübsches Gesicht. Wir waren nie wirklich eng befreundet gewesen, hatten aber einige gute Momente miteinander geteilt. Es waren ungefähr zwei Jahre vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal über den Weg gelaufen sind.

«Fabio, gell?» meinte sie zu mir, nachdem wir uns kurz umarmten. Dieses gell zog sie dabei suggestiv in die Länge. Sie habe in der Zwischenzeit sehr viel erlebt und unzählige neue Leute und Namen kennengelernt. Sie musste etwas nachdenken, aber meinen Namen habe sie sich merken können. Das sagte sie nicht. Das sagte mir dieses gell. Ich weiss nicht, ob sie es so beabsichtigte. Aber ich muss zugeben, meine Interpretation davon wühlte mich innerlich etwas auf. Mehr sogar, dieses gell provozierte mich. Es war ein Ellbogenschlag in die Magengrube meines Egos. Natürlich wusste sie noch, wie ich heisse. Und natürlich kannte sie meinen Namen. Natürlich bin ich Fabio. Was für ein Theater!

Ich liess mir nichts anmerken: Einfach nett nicken und die Begrüssung erwidern. Vergessen wir es. Es ist nie passiert. Jetzt bin ich an der Reihe. Dabei kann nichts schiefgehen. Es sei denn, …

Richtig, mir fiel ihr Name nicht ein.

Ich meinte, den Namen auf der Zunge zu haben. Ich meinte. Aber er wollte mir nicht über die Lippen kommen. Ich hätte einer Blamage ausweichen können und mit einem casual “Hallo” meine alte Kollegin begrüssen können. Aber dafür war es zu spät. Sie bemerkte mein Zögern. Ich suchte den Namen in jeder verstaubten Ecke und in allen Registern meines Geistes. Warf Aktenstapel um, wischte den Dreck vom Boden auf. Er musste da irgendwo sein. Ich war mir sicher. Aber ich konnte ihn nicht finden. So biss ich mir auf die Zunge und fragte sie nach ihrem Namen.

[to be continued…]

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inspiriert von Alberto Giacometti (1901-1966)

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