Kann ich um meine Existenz wissen? – Über Descartes und seinen ontologischen Zweifel

Geschriebenes

Es ist zwei Uhr morgens. Man liegt mit offenen Augen im Bett und starrt an die dunkle Decke. Oder man sitzt im Zug, den Kopf an die Fensterscheibe angelehnt. Das eigene Profil spiegelt sich im vorbeiziehenden Panorama. Oder man sitzt mit der Gabel im Mund. Der Kiefer bewegt sich auf und ab. Man ist in Gedanken versunken. Und es dämmert einem:

Existiere ich eigentlich? Was meine ich genau damit, wenn ich mir Existenz zuschreibe? Und wie kann ich sicher sein, dass überhaupt irgendetwas existiert?

Fragen rund um die eigene Existenz beschäftigen vermutlich jeden irgendwann einmal. Gut, vielleicht nicht jeden. Aber mindestens Philosophiestudenten wie ich, dürften kaum von solchartigen Gedankengängen verschont bleiben. Konfrontiert mit der Unsicherheit über die eigene Existenz schlägt man sich aber wahrscheinlich ziemlich schnell den Kopf an. Wie sollte man auch ein solch abstraktes Themenfeld bewandern? Ist es überhaupt möglich, eine Antwort zu finden? Und wenn ja, wo soll man beginnen? So wirft man schneller wieder das Handtuch, als man die Fragen aufwarf. Und der philosophische Gedanke verflüchtigt sich…

Doch was würde geschehen, wenn man den Gedanken festhalten würde? Was würde passieren, wenn man den feinen Faden nicht aus den Händen lässt und daran zieht und zieht und zieht, bis ein Ende sichtbar wird? Falls es überhaupt ein Ende geben sollte? Dafür lohnt es sich, knapp 400 Jahre in die Vergangenheit zurückzublicken.

René Descartes (1596-1650) war nämlich der erste, der die Fragen zur eigenen Existenz ernsthaft gestellt und in seinen berühmten Meditationen systematisch nach einer Antwort gesucht hat. Anstatt aber danach zu suchen, was mit Sicherheit existiert, geht Descartes das Finden einer Antwort von der entgegengesetzten Richtung an: Er führt sich vor Augen, was er zu wissen glaubt, und zweifelt daran. Falls etwas notwendigerweise existiert, so sollte es nämlich nicht möglich sein, daran zu zweifeln. Mit dem Ziel, «etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften zu errichten» (ME 19), wählt er als Startpunkt des Prozesses kein konstruktives, sondern ein skeptisches Vorgehen. Um robustes Wissen aufzubauen, muss er zuerst alles Zweifelhafte demolieren. In Form des methodischen Zweifels versucht er so, Schicht für Schicht, Zweifel für Zweifel zu entfernen, bis er irgendwann auf etwas Sicheres und Unzweifelhaftes stösst.

Mit diesem Artikel versuche ich, schriftlich dem Gedankengang Descartes zu folgen und ihn zu veranschaulichen. Dazu werde ich zuerst den methodischen Zweifel umreissen und Existenz – so wie ich es interpretiert habe – definieren. Anschliessend werden die Hauptargumente der ersten zwei Meditationen mit dem Fokus auf die eigene Existenz rekonstruiert, um schliesslich das Gedankenexperiment als Ganzes zu reflektieren.

Bild: Odilon Redon, There Was Perhaps a First Vision Attempted by the Flower (1883)

Der methodische Zweifel

Im ersten Satz der Meditationen reflektiert Descartes1, wie viele falsche Glaubenssätze er in seiner Jugend erlangt, in das Erwachsenenleben übernommen, und darauf «aufgebaut habe.» (ME 19) Dieses fehlerhafte Set an Meinungen gilt es nun zu bereinigen. Dies soll geschehen, indem Descartes sein (Schein-)Wissen hinterfragt, das Falsche aussortiert und nur das Sichere beibehält.

Als Analogie wird oft Descartes Beispiel des Korbes voller Äpfel zitiert, das er in den Antworten zu seinen Meditationen ausführt2. Um faule Früchte aus einem Apfelkorb zu entfernen, brauche es ein systematisches Vorgehen. Denn werden nicht alle faulen Exemplare konsequent aussortiert, können diese die gesunden Äpfel mit ihrer Faulheit infizieren. Wie bei dem Apfelkorb brauche es auch eine Methode, um Falschwahrheiten von Wahrheiten zu trennen und ein unerschütterliches Fundament – frei von Faulheit bzw. Falschheit – zu ermöglichen: den methodischen Zweifel.

Den Weg, den Descartes wählt, ist ein skeptischer. Er nimmt an, dass alles, was er für wahr hält, falsch sein könnte. Der Titel der ersten Meditation leitet den Meditierenden zu dem, «was in Zweifel gezogen werden kann.» (ME 19) Dabei soll «dem nicht völlig Sicheren und Unzweifelhaften die Zustimmung nicht weniger gründlich entzogen werden [] als dem offenbar Falschen […]» (ME 19) Es gilt, alles zurückzuweisen, «worin [er] auch nur irgendeinen Grund zum Zweifeln antreffe» (ME 19) Das bedeutet allerdings nicht, dass durch Zweifeln die Falschheit des Betrachteten belegt ist. Umgekehrt heisst dies aber auch, dass die Wahrheit noch nicht durch fehlende Zweifelsgründe bewiesen ist. Mit dem methodischen Zweifel kann Descartes also nicht zu Erkenntnis, sondern nur zu Unkenntnis gelangen.

Der methodische Zweifel kann als Startpunkt für einen Prozess angesehen werden, der darauf abzielt, Falschheiten durch Wahrheiten zu ersetzen. Ausserdem ist der Zweifel ein Werkzeug, um angewöhnte Glaubenssätze aufzulösen – quasi die eigenen Vorurteile zu neutralisieren.

Bild: Odilon Redon, In the Maze of Branches the Pale Figure Appeared (1887)

Definition von Existenz

Descartes sucht in seinem Gedankenexperiment nach einem archimedischen, einem «festen und unbeweglichen Punkt» (ME 27), an dem er sein Wissen anknüpfen kann. Dabei soll es sich um etwas handeln, was man unzweifelhaft wissen kann, was mit Gewissheit existiert3.

Descartes untersucht in seinen Meditationen dasjenige, was ihm «jetzt zu existieren scheint» (ME 22) und versucht, das scheinbare Existieren vom tatsächlichen zu unterschieden. Im Traumargument differenziert Descartes zwischen wahren und vorgestellten Dingen (Vgl. ME 21), wobei nur ersteres wirklich existiert. Falls ein Ding nur einer Illusion unterliegt und entsprechend «falsch ist» (ME 27), existiert es nach Descartes nicht. Daraus kann (ein) folgendes Verständnis von Existenz abgeleitet werden:

Existenz kommt nach Descartes den Dingen zu, die wahrhaftig, untrüglich und wirklich sind.

Descartes methodischer Zweifel ist somit der Versuch, zwischen sicherem und zweifelhaftem Wissen und damit gleichzeitig zwischen sicherer und zweifelhafter Existenz zu unterscheiden. In der ersten Meditation zweifelt Descartes an der Existenz der Welt, des eigenen Körpers und den Sinnen, während er in der zweiten Meditation dazu gelangt, die eigene Existenz zu hinterfragen. Welche Aspekte der Welt, des Körpers, den Sinnen und der Existenz damit gemeint sind, wird nun im Folgenden etwas genauer unter die Lupe genommen.

Bild: Odilon Redon, Strange Flower (Little Sister of the Poor) (1880)

Descartes Zweifel

Die erste Meditation: «Über das, was in Zweifel gezogen werden kann.»

Die erste der sechs Meditationen verfolgt einen dreifachen Zweck (Vgl. HA 72): Sie soll einem durch den methodischen Zweifel (1) von «allen Vorurteilen befrei[en]» und (2) «den Geist den Sinnen entziehen», um schliesslich (3) das Wahre «nicht länger bezweifeln [zu] können.» (ME 13) Was bedeutet dies nun konkret?

In der Absicht, direkt auf das Fundament seiner Glaubenssätze loszugehen, kümmert sich Descartes zuerst um die sinnliche Wahrnehmung. Er erwähnt, dass er alles, was er bisher als wahr empfunden habe, über seine Sinne erfahren habe. Der erste Grund, weshalb an den Sinnen gezweifelt werden kann, liegt in ihrer Unzuverlässigkeit:

«[…] ich habe entdeckt, daß die Sinne zuweilen täuschen, und Klugheit verlangt, sich niemals blind auf jene zu verlassen, die uns auch nur einmal betrogen haben.» (ME 20)

Als zweites, stärkeres Argument für die Fehlbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung führt Descartes die Möglichkeit auf, dass er beispielsweise nur träumen könnte, zu diesem Zeitpunkt (mit Papier und Stift) vor dem Feuer zu sitzen. Im Alltag scheine es mehr als deutlich, dass man im Wachzustand handle, die Glieder willentlich bewege und Äusserlichkeiten unmittelbar wahrnehme. Allerdings – und zu diesem Gedanken muss sich Descartes selbst überwinden – ist der Meditierende «durch vergleichbare Gedanken in Träumen sonst irregeführt worden.» (ME 21) Tatsächlich fehlt Descartes ein sicheres Kriterium, um zwischen Wach- und Traumzustand zu unterscheiden:

«Wenn ich aufmerksamer daran denke, sehe ich so unverhohlen, daß der Wachzustand niemals aufgrund von sicheren Anzeichen vom Traum unterschieden werden kann» (ME 21)

Dabei muss Descartes nicht einmal annehmen, dass es tatsächlich Wachzustände gibt, weil er auch nicht beweisen will, dass der Mensch die ganze Zeit träumt (Vgl HA 76). Für seine Argumentation reicht es, einen plausiblen Grund für einen Zweifel aufzuführen.

Das Traumargument erhebt mit dem Zweifel an der sinnlichen Wahrnehmung gleichzeitig auch Zweifel an der Existenz des eigenen Körpers. «Augen, Kopf, Hände und der gesamte Körper» (ME 21) sind möglicherweise nur erträumte Vorstellungen. Allerdings geht Descartes davon aus, dass Vorstellung und Überlegungen Nachbildungen von realen Dingen seien. Der Imagination wird die Fähigkeit zugeschrieben, aus «Allgemeinheiten» (ME 21) Vorstellungen zusammenzusetzen und zu kombinieren. Selbst wenn wir also träumen, so ist der Stoff, aus dem unsere Träume bestehen, etwas Realem, gewissen «Allgemeinheiten» «nachgebildet» (ME 22). Wissenschaftliche Disziplinen wie die Astronomie oder Physik sind ebenfalls zweifelhaft, weil sie – wie die sinnliche Wahrnehmung – von «der Betrachtung zusammengesetzter Dinge abhängen.» (ME 22) Im Gegensatz dazu scheint z.B. die Mathematik sicherer und unzweifelhafter, weil sie sich nur mit den allgemeinsten aller Dinge beschäftigt – unabhängig davon, ob die betrachteten Gegenstände «in der dinglichen Natur nun vorkommen oder nicht.» (ME 22)

Dieser scheinbaren Sicherheit und Unzweifelhaftigkeit der Mathematik wird allerdings bereits im nächsten Abschnitt der Boden entzogen. Descartes führt nun nämlich ein neues Element in seine Betrachtung ein: den allmächtigen Gott. Mit der Prämisse, dass Gott in der Lage sei, den Menschen nach seinen Vorstellungen zu erschaffen, eröffnet sich ein neues Feld von Zweifeln:

Woher weiss ich aber, dass [Gott] nicht veranlaßt hat, daß es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Größe, keinen Ort gibt – und all dies mir trotzdem genau so wie jetzt zu existieren scheint? (ME 22)

Mit Gott wird nicht nur das Scheinbare (körperliche Gegenstände), sondern auch der kognitive Prozess des Erscheinens selbst in Frage gestellt. Die Möglichkeit, dass Gott ihn dazu «veranlaßt hat», gewisse Vorstellungen von Dingen zu haben, die in Wirklichkeit gar nicht existieren, erhebt Zweifel über das eigene Denken. Wenn es keine korrespondierenden Eindrücke gibt, welche die Vorstellung von körperlichen Gegenständen im Geist hervorrufen, wie kann sich der Meditierende dann sicher sein, dass selbst «wenn [er] zwei und drei miteinander addiere», er nicht getäuscht werde?

Bild: Odilon Redon, The Buddha (1895)

Decartes führt zwei Varianten auf, man durch einen Gott in die Irre geführt werden kann: (1) Gott würde den Menschen «betrügen» (ME 22), d.h. aktiv Täuschungen in ihm verursachen oder Gott habe ihn (2) «in einer solchen Weise geschaffen, daß [er sich] stets täusche» (ME 22). Im oben zitierten Abschnitt wird Möglichkeit (1) verwendet, um die Sinne in Frage zu stellen. Im Rechen-Beispiel wird Möglichkeit (2) aufgegriffen, um an der menschlichen Vernunft zu zweifeln. Dass ein Fehler in einer Kreation Gottes zu systematisch falschen Vorstellungen von selbst den einfachsten Vernunftstätigkeiten führen könnte, lässt sich nach Descartes mit der mutmasslichen «Güte» (ME 23) Gottes nicht vereinbaren. Einen Zweifel lasse sich damit allerdings nicht ausschliessen.

Im Anschluss daran reflektiert Descartes, dass einige Leute nicht Gott, sondern eine andere Kraft für den Ursprung des Menschen verantwortlich machen. Für sein Gedankenexperiment nimmt er deshalb an, «aus Schicksal, durch Zufall oder die Verkettung der Umstände auf irgendeine andere Weise» (ME 23) zu dem geworden zu sein, was er heute sei. Descartes hält aber fest, dass natürliche Ursachen oder Zufälle «weniger mächtig» als ein omnipotenter Gott seien und deshalb viel wahrscheinlicher zu fehlerhaften kognitiven Strukturen führen können (Vgl. HA 85). Ob man also an einen Gott oder eine alternative Ursache glaube, spiele schliesslich keine Rolle, da beide Hypothesen die Möglichkeit zulassen, «daß ich mich stets täusche» (ME 22).

Descartes hält fest, dass es nicht ausreiche, die Zweifelhaftigkeit der sinnlichen Wahrnehmung oder der Vernunft bloss festzustellen. Die «gewohnten Meinungen» (ME 23) kehren wie von selbst – und ob man will oder nicht – wieder zurück. Ansichten, an welchen man sich über Jahre hinweg orientiert habe, würden sich nicht einfach durch rational begründete Zweifel abschütteln lassen. Um sich gegen die Macht der Gewohnheit zu wehren und den methodischen Zweifel weiter zu verfolgen, will sich deshalb Descartes um des Arguments Willen «selbst täuschen» (ME 24). Er wird annehmen, dass seine gewohnten Ansichten nicht nur zweifelhaft, sondern «insgesamt falsch und vorgestellt seien, bis schliesslich gleichsam die Gewichte der Vorurteile auf beiden Seiten ausgeglichen sind.» (ME 24)

Zu diesem Zweck treibt er das Gott-Argument noch einen Schritt weiter. An die Stelle eines wohlmeinenden Gottes, den Descartes für die «Quelle der Wahrheit» (ME 24) hält, tritt ein boshafter Genius, der nicht nur die Möglichkeit zulasse, getäuscht zu werden, sondern absichtlich «all seine Hartnäckigkeit darein [setze], [ihn] zu täuschen» (ME 24). Damit nimmt Descartes erneut in seinem Gedankenexperiment die stärkstmögliche skeptische Position ein und verdeutlicht so den Zweifel an der externen Welt und am eigenen Körper.

Bild: Odilon Redon, And His Name That Sat on Him Was Death (1899)

Die zweite Meditation: «Über die Natur des menschlichen Geistes: daß er bekannter ist als der Körper»

Descartes greift in der zweiten Meditation den Zweifel dort auf, wo er ihn im ersten Kapitel geschlossen hat. Nachdem er Zweifel am eigenen Körper als Teil der externen, physischen Welt und den Sinnen geäussert hat, hinterfragt Descartes schliesslich seine eigene Existenz:

Bin ich selbst also etwa irgendetwas? […] Bin ich nicht derartig mit dem Körper und den Sinnen ver- bunden, daß ich ohne sie nicht sein kann? Aber ich habe mich überredet, daß es überhaupt nichts in der Welt gibt […] – und daß demnach auch ich nicht bin? (ME 28)

Descartes kommt an dieser Stelle zum Schuss, dass er existiert – selbst wenn es keinen Körper und keine Sinne geben würde und auch unabhängig davon, ob er selbst oder ein boshafter Genius der «Urheber dieser Gedanken» (ME 28) sei: «Zweifelsohne bin ich selbst also, wenn er mich täuscht […]» (ME 28).

Zum ersten Mal ist er somit an eine Stelle gelangt, an der ein Zweifel ungerechtfertigt scheint. Das Wort «Zweifelsohne» markiert die Grenze des Handlungsradius des methodischen Zweifels. So oft er auch getäuscht werde und so hartnäckig ein böser Dämon auch versuche, ihn zu betrügen, «solange ich denken werde, daß ich etwas bin» (ME 28) kann er an seiner eigenen Existenz nicht zweifeln.

Mit «Ich bin, ich existiere» (ME 28) scheint er einen Grundsatz gefunden zu haben, der seinem Zweifel standhält. Die Konklusion, welche am Anfang der zweiten Meditation gezogen wird, ist allerdings bloss, dass «ich existiere». Worin der Charakter oder die Natur dieses Ichs besteht, darauf verwendet Descartes den Rest der zweiten Meditation. Mit den skeptischen Argumenten aus der ersten Meditation im Hinterkopf untersucht er nun die eigene Existenz als das, was «ich einst zu sein geglaubt habe» (ME 28), und zieht davon durch Zweifel alle Komponenten ab, «die auch nur im geringsten erschüttert werden» (ME 28) können.

Als Erstes erwähnt Descartes, dass er vor seinem Zweifel glaubte, ein «Mensch» zu sein. Mit «Mensch» meinte er gewöhnlich ein vernünftiges Wesen, das aus einem körperlichen und seelischen Teil besteht (Vgl. ME 29). Von der «Seele» hatte er keine klare Vorstellung, während er unter «Körper» etwas assoziierte, das räumlich ausgedehnt ist und über Sinne verfügt. Welche Aspekte des Mensch-Seins können – unter Berücksichtigung eines möglichen Betrügers – seinem Zweifel standhalten?

Sowohl der physische Körper selbst als auch körperliche Aktionen – z.B. «Sich-Ernähren oder Gehen» (ME 30), was Descartes der Seele zuschrieb – oder die sinnliche Wahrnehmung setzen einen Körper voraus, der allerdings blosses Trugbild der Vorstellungskraft sein könnte. Nur das Denken selbst bleibe übrig:

« […] demnach bin ich genaugenommen nur ein denkendes Ding […]» (ME 30).

Wie lässt sich aber dieser «Geist, bzw. Gemüt, bzw. Verstand, bzw. Vernunft» (ME 30) charakterisieren? Und worin besteht die Beziehung des Denkens zum Körper? Zuerst stellt sich Descartes das «Ich» als denkendes Ding vor, um wiederum alles Zweifelhafte von dieser Vorstellung abzuziehen.

Er sei weder «das Gefüge jener Körperteile» noch «irgendeine feine, diese Körperteile durchströmende Luft, kein Wind, kein Feuer, kein Dampf, kein Hauch […]» (ME 30-31). Descartes Vorstellung von sich selbst eröffnet aber ein neues Problem: «Denn sich etwas vorzustellen ist nichts anderes, als sich in die Gestalt, bzw. in das Bild eines körperlichen Dinges zu vertiefen.» (ME 31) Die Existenz darf folglich nicht von der Vorstellungskraft abhängen, weil diese sich auf Körperliches bezieht, was wiederum selbst zweifelhaft ist. Was kann also dieses«denkende Ding» (ME 32) sonst noch sein?

«Nun – ein denkendes, einsehendes, behauptendes, bestreitendes, wollendes, nicht wollendes, und auch etwas sich vorstellendes und sinnlich wahrnehmendes Ding.» (ME 32)

Nach Descartes ist die Einsicht, «dass ich selbst es bin, der ich zweifle, der ich einsehe […] » (ME 32), offensichtlich. Aber was machen diese Aktivitäten zu seinen eigenen? Anscheinend die Tatsache, wie Gary Hatfield bestätigt (Vgl. HA 122-23), dass er sich deren bewusst ist und sie Teil des gleichen Bewusstseins sind. Interessant ist hier festzuhalten, dass er auch das sinnliche Wahrnehmen und das Vorstellen in die Liste der Aktivitäten des denkenden Dinges aufnimmt, deren Sicherheit zuvor angezweifelt wurde. Dies erklärt Descartes damit, dass selbst wenn es sich beim Vorgestellen bzw. Wahrgenommenen um Illusionen handeln würde (z.B. ein Geräusch, das man hört), am Akt des Vorstellens bzw. des Wahrnehmens selbst nicht gezweifelt werden könne (z.B. das Hören an sich). Sinnliches Wahrnehmen und Vorstellen ist nach Descartes also «nichts anderes als Denken4.» (ME 33)

Der Zweifel an der sinnlichen Wahrnehmung von Körpern und der Zweifel an der Vorstellungskraft, die auf eine externe physische Welt referiert, bleiben bestehen. Nicht aber kann daran gezweifelt werden, dass im Verstand etwas geschieht und – noch weniger – dass das Denkende bzw. Erfassende selbst etwas ist.

Bild: Odilon Redon, Armor (1891)

Diskussion

Descartes erhebt in seinen Meditationen Zweifel an äusseren und inneren Gewissheiten, indem er skeptische Szenarien konstruiert. Diese Szenarien sollen nicht beweisen, dass ein bestimmter Glaube oder ein Urteil richtig oder falsch ist, sondern nur plausible Gründe aufzeigen, um an diesen Glaubenssätzen oder Urteilen zu zweifeln. Falls ein Szenario der skeptischen Prüfung standhalten sollte, so ist zu vermuten, dass es sich dabei um etwas «Sicheres» (ME 27) handelt.

Dieses Vorgehen ist allerdings von einigen Faktoren abhängig, die mitreflektiert werden müssen. Zum einen ist es schwierig zu beurteilen, ob ein von ihm konstruiertes skeptisches Szenario relevant und möglicherweise korrekt ist oder nicht. Einerseits erlaubt die Vorstellungskraft des Meditierenden, den Zweifel mit unterschiedlichsten hypothetischen Umständen zu konfrontieren und so einen starken Prüfstein für das sichere Wissen zu setzen. Andererseits stellt sich die Frage – falls das Szenario nicht relevant oder korrekt sein sollte –, ob dieses überhaupt irgendeinen Grund für einen Zweifel hervorbringen kann (Vgl. BR 105).

Zudem kann das Gedankenexperiment nicht völlig voraussetzungslos funktionieren und den «allgemeinen Umsturz [von Descartes] Meinungen» (ME 19) ermöglichen. Zum Beispiel kann er seine metaphysischen Vorstellungen nicht ablegen (Vgl. HA 89). Grundlegende Annahmen betreffend der Existenz oder Gedanken werden somit unverhofft in den Zweifel mit eingebaut. Auch Prinzipien wie die Kausalität oder logische Folgerungen müssen im Voraus akzeptiert werden, damit Descartes im Prozess seiner Untersuchung vorankommt. Ein gewisses primitives Wissen muss also dem radikalen Zweifel vorenthalten werden.

Welche Zweifel hat nun Descartes erhoben, welcher Natur sind sie und was sagen sie über sein Existenzverständnis aus? In der Absicht, auf die Grundsätze seiner (möglicherweise) zweifelhaften Meinungen loszugehen, stellt Descartes in Frage, was er vor seinem Gedankenexperiment als essentielle Bestandteile des Menschen erachtete: den Körper und die Seele.

Mit dem Traum-Argument hat Descartes gezeigt, dass man keine klaren Kriterien besitzen, um zwischen Traum- und Wachzustand zu unterscheiden. Die Informationen, die man über die Sinne empfängt, könnten von realen Objekten stammen, die von einem physischen Körper perzipiert werden. Sie könnten allerdings auch blosse Illusionen der eigenen Vorstellungskraft sein (Vgl. ME 20-21).

Mit dem Gott-Argument wird die Möglichkeit diskutiert, dass man vom Schöpfer entweder mit einem Defekt erschaffen worden ist oder gar aktiv getäuscht wird. Dieses Szenario lässt den Meditierenden nicht nur am eigenen materiellen Körper, sondern auch an der gesamten externen Welt zweifeln. Dadurch liefert Descartes Gründe, weshalb zumindest der körperliche Aspekt der eigenen Existenz nicht das unerschütterliche Fundament darstellen kann.

Wie sieht es mit den inneren Fakultäten der menschlichen Existenz aus? Das Gott- sowie auch das Boshafter-Genius-Argument erheben mit dem Szenario, dass eine externe Kraft das psychologische Geschehen des Meditierenden beeinflusst, auch auf kognitive Prozesse Zweifel: Ist der Meditierende überhaupt der Urheber seiner Gedanken? Und wenn es möglich ist, dass er Dinge wahrnimmt, die in Wirklichkeit gar nicht existieren, wie kann er dann sicher sein, dass er nicht auch bei Denkakten wie einfachen Rechenaufgaben getäuscht wird (Vgl. ME 22)?

Am Ende der ersten Meditation bleibt also weder der Körper noch die sinnliche Wahrnehmung noch das Denken ganz ohne Zweifel. In der zweiten Meditation stösst Descartes auf etwas scheinbar Unzweifelhaftes, nämlich, dass er selber existiert. Die eigene Existenz kann er durch seinen Geist begreifen (Vgl. ME 28). Der Zweifel wird an dieser Stelle allerdings nicht beendet, es wird vielmehr ein neuer Anlauf genommen. Die zweite Mediation kann als Übung verstanden werden, am Körper zu zweifeln, während eine bestimmte geistige Komponente der Existenz affirmiert und präzisiert wird. Was schliesslich Descartes Zweifel am Ende der Meditation standhält, ist die Vorstellung, dass ein «Ich» in der Form eines denkenden, intellektuellen Dinges existieren muss.

Bild: Odilon Redon, Le Joueur (1879)

Eine Auffälligkeit, die Descartes methodischen Zweifel markiert, ist die Gegenüberstellung von den Sinnen und dem Intellekt. Die Sinne stehen hier stellvertretend für den Körper und die ganze äussere Welt, während der Intellekt den Geist des Menschen fasst. Die sinnliche Wahrnehmung wird zwar nicht per se als negativ oder trügerisch beschrieben und gehört nach der Definition von Descartes zu den Fakultäten des Denkens (Vgl. ME 32), sie scheint aber die falsche Quelle für sicheres Wissen zu sein (Vgl. HA 86). Es ist das Bewusstsein darüber, dass man wahrnimmt, d.h. das intellektuelle Begreifen des Wahrnehmens als Denken, und nicht was man wahrnimmt, was für eigene Existenz konstitutiv ist. Der Sieg des Intellekts scheint bereits im Setting des Gedankenexperiments angelegt zu sein. Die rationale Übung des Zweifelns ist selbst intellektuell. Ein alternatives Resultat mit Verneinung des Geistes anstelle der Sinne scheint also problematisch, wenn nicht gar unmöglich zu sein.

Der methodische Zweifel, wie ihn Descartes verwendet, endet in einem subjektiven Verständnis von Existenz und Wissen. Descartes motiviert den Zweifel darin, dass von der Jugend an Falsches als wahr angenommen worden ist, auf dem man sein Wissen weiter aufge- baut hat. An der eigenen Existenz zweifeln bedeutet somit primär, alte Denkgewohnheiten zu hinterfragen. Dieses Set an Meinungen und Glaubenssätzen ist höchst individuell. In der zweiten Meditation betont Descartes ausdrücklich, dass er «nur über das, was [ihm] bekannt ist, ein Urteil abgeben» (ME 31) kann. Der Zweifel ist somit ein Werkzeug, das nur innerhalb des Erfahrungsschatzes und des Bewusstseins des Meditierenden funktioniert, wie Hatfield erklärt:

[…] the conclusion [«I exist»] is limited simply to the meditator’s existence, which has been established by reflecting on the fact, that she has doubted, or been deceived, or had various thoughts. (HA 103)

Weil die Methode subjektiv ist, um das Falsche vom Wahren zu trennen, wird schliesslich auch das Resultat ein subjektives sein. Dazu kommt die Tatsache, dass die Existenz, zu der Descartes in der zweiten Meditation gelangt, ohne ein selbstreflexives Moment nicht denkbar ist. Um sich seiner Existenz bewusst zu werden, muss man wiederum das eigene Denken geistig erfassen. Existenz geht somit bei Descartes immer mit einem Bewusstsein über die eigenen mentalen Tätigkeiten einher.

Es ist zwei Uhr morgens. Man liegt mit offenen Augen im Bett und starrt an die dunkle Decke. Oder man sitzt im Zug, den Kopf an die Fensterscheibe angelehnt. Das eigene Profil spiegelt sich im vorbeiziehenden Panorama. Oder man sitzt mit der Gabel im Mund. Der Kiefer bewegt sich auf und ab. Man ist in Gedanken versunken. Und es dämmert einem:

Existiere ich eigentlich? Was meine ich genau damit, wenn ich mir Existenz zuschreibe? Und wie kann ich sicher sein, dass überhaupt irgendetwas existiert?

Anstatt sich aber den Kopf an der schieren Unmöglichkeit einer Beantwortung solcher Fragen anzuschlagen und aufzugeben, erinnert man sich an Descartes. Man weiss nun, wie einer der prägendsten Denker der Neuzeit vorgegangen ist. Man kennt das Denkwerkzeug des französischen Philosophen. Man kennt seine Argumente, seine Bedenken und die Schwierigkeiten seiner Methode. Und plötzlich weiss man, anders mit den Gedanken im Kopf umzugehen.

Ob man durch den ontologischen Zweifel einer Antwort tatsächlich nähergekommen ist, ob man die Gedankengänge Descartes für plausibel hält, ob man ein Auseinandersetzung dieser Art überhaupt für sinnvoll erachtet – das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Was Descartes Gedankenexperiment aber definitiv demonstriert, ist, dass strukturiertes und systematisches Denken eine Menge möglich macht. Ob Denken Existenz ermöglicht, das weiss ich nicht. Aber dass es neue Wege ebnen, Abstraktes konkretisieren, und Feinstoffliches greifbarer machen kann – dem bin ich mir sicher.

Bild: Odilon Redon, The Deformed Polyp Floated on the Shores, a Sort of Smiling and Hideous Cyclops by the Flower (1883)

Anmerkungen:
Grundlage dieses Artikels ist eine schriftliche Arbeit, die ich im Rahmen eines Seminars zum Thema «Existenz» an der Universität Zürich geschrieben habe. Für diesen Artikel habe ich die Arbeit gekürzt, überarbeitet, ihrer Formalia entledigt, und – um der besseren Lesbarkeit Willen – teilweise ganz umgeschrieben.

1 Der Erzähler in der ersten Person der Meditationen wird im Rahmen dieses Artikel mit Descartes gleichgesetzt. Ob es sich beim «Ich» tatsächlich um Descartes, den Autor des Werks, oder einen fiktiven Protagonisten mit einer didaktischen Funktion handelt, wird für diese Untersuchung ausgeklammert. (Vgl. HA 50)

2 Vgl. AT 7:481. Zitiert aus: Newman, Lex: Descartes’ Epistemology. The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2019 Edition), Edward N. Zalta (ed.), (abgerufen am 21.4.2019).

3 Eine extensionale Benennung der Existenz, also die Menge der Dinge, worauf der Ausdruck zutrifft, wird erst im späteren Verlauf des Meditationsprozesses entwickelt. Dabei führt Descartes primär die res cogitans (eine denkende Sache) und sekundär die res extensa (eine ausgedehnte Sache) auf. Für diesen Artikel ist allerdings relevanter, wie Existenz intensional definiert wird, d.h. welche Eigenschaften ihr zugeschrieben werden.

4 Denken wird bei Descartes als eine auf den Geist bezogene Tätigkeit verstanden.

Bibliographie:
ME: Descartes, René: Meditationen. Übers. und hgg. von Christian Wohlers. Hamburg 2009 (= PhB 596).
BR: Broughton, Janet: Descartes’s Method of Doubt. Princeton 2003.
HA: Hatfield, Gary: Descartes and the Meditations. London 2003.
SO: Southwell, Gareth: A Beginner’s Guide to Descartes’s Meditations. Malden MA 2008.

Bilder
Alle Werke stammen vom grossartigen französischen Maler und Gestalter Odilon Redon (1840-1916). Die digital aufbearbeiteten Kopien stammen von Rawpixel. Die Bilder wurden teilweise bearbeitet und freigestellt. Die Titel der Werke in chronologischer Reihenfolge:
Header: Guardian Spirit of the Waters (1878)
1. There Was Perhaps a First Vision Attempted by the Flower (1883)
2. In the Maze of Branches the Pale Figure Appeared (1887) 
3. Strange Flower (Little Sister of the Poor) (1880)
4. The Buddha (1895)
5. And His Name That Sat on Him Was Death (1899)
6. Armor (1891)
7. Le Joueur (1879)
8. Everywhere eyeballs are aflame (1888)
9. The Deformed Polyp Floated on the Shores, a Sort of Smiling and Hideous Cyclops by the Flower (1883)


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