Fort-, Rückschritt und Stagnation – Über Technologie, Krieg und weitere (mögliche) Katastrophen
Geschriebenes1899 ruft der russische Zar Nikolaus II. alle europäischen Grossmächte an einen gemeinsamen Tisch. Vertreter aus 26 Staaten finden sich zwischen Mai und Juli zusammen, um über ein ernstes Anliegen von Nikolaus dem Zweiten – den “allgemeinen Frieden zu wahren und die übermässigen Waffenbestände so weit als möglich zu reduzieren”1 – zu diskutieren. Ein berechtigter Gesprächspunkt. Denn Ende des 19. Jahrhunderts explodierte der technologische und wissenschaftliche Fortschritt, insbesondere in der Rüstungsindustrie. Unsinnige Beträge flossen aus den Staatskasse in die Produktion von Kriegsmaterial, das nach der Konzeption und Herstellung beim Datum der Vollendung bereits nicht mehr dem technologischen State of the Art entsprach. Deshalb wollte der russische Zar eine gemeinsame Regelung bezüglich der militärischen Abrüstung. Mit anderen Worten: Er versuchte, den technologischen Fortschritt einzufrieren.2
Das Zitat «Get there the firstest with the mostest», das dem amerikanischen Army General Nathan B. Forrest zugeschrieben wird, galt als Motto der damaligen Kriegskunst. Im Falle einer Konfrontation zweier oder mehrerer Militärkräfte, sollte derjenige den Sieg für sich beanspruchen, der als erster auf dem Schlachtfeld (kürzeste Mobilisierungszeit) mit den meisten Waffen bzw. Soldaten (höchste Produktionsrate) erschien.3
Kürzeste Mobilisierungszeit + höchste Produktionsrate = Sieg
Durch den Boom in den Forschungslaboren wurde dieser einfachen Formel eine weitere Variable hinzugefügt:
Modernste Technik + kürzeste Mobilisierungszeit + höchste Produktionsrate = höhere Wahrscheinlichkeit auf glimpflicheren Ausgang
Einerseits verbesserte sich das Kriegsmaterial derart schnell, dass der Rückstand im Rüstungswettstreit von wenigen Jahren bereits ein existentielles Risiko bedeuten könnte. Und andererseits fehlten Kriege, um die Waffen tatsächlich gegen einen echten Feind testen zu können. Niemand hatte einen blassen Schimmer, was wirklich geschehen könnte, falls diese modernen und immer moderner werdenden Armeen im Ernstfall aufeinandertreffen würden.
Existentielles Risiko (Definition Wikipedia): « Ereignis, welches in der Lage ist, auf der Erde entstandenes, intelligentes Leben auszulöschen, oder dessen wünschenswerte Entwicklung drastisch und permanent einzuschränken.
Ohne ein multilaterales, gültiges Abkommen steht somit ein Nationalstaat Ende des 19. Jahrhunderts vor einer Entscheidung: Entweder investiert man die nötigen Ressourcen, um im Rüstungswettstreit auf Augenhöhe zu bleiben. Oder aber man riskiert, dass man durch einen anderen Staat zurück in die Steinzeit geschickt wird.
Wie zu vermuten, ist der Vorschlag des russischen Zars an einem kugelsicheren Wall an Egoismus, Misstrauen und Angst der weiteren Grossmächte zerbröckelt. Einige Jahre später offenbarten sich 1914 die fatalen Konsequenzen dieser Entscheidung. (Es wäre natürlich anmassend zu sagen, ein gemeinsames Abkommen hätte den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen unterbinden können.)
Und trotzdem scheint die Reaktion auf die Haager Friedenskonferenz aus heutiger Perspektive völlig selbstverständlich. Ja, gar der Grund für das Zusammenkommen wirkt absurd: Fortschritt aufhalten wollen. Rückschritt oder selbst Stagnation sind in Bezug auf Technologie ein Fremdwort geworden.
Stellen wir uns vor, wie sich Tesla, Toyota, BMW und Audi an einen Tisch setzen und beschliessen würden, Elektroautos seien gut so, wie sie sind. Eine Weiterentwicklung wäre nicht nötig und viel zu teuer.
Oder eine bilaterale Regelung zwischen Samsung und Apple, dass unsere Smartphones nicht noch leistungsfähiger und noch praktischer werden sollten. Weshalb haben wir überhaupt noch unterschiedliche Betriebssysteme?
Heute kennen wir nur eine Richtung des Fortschritts: Nach vorne bzw. nach oben. In einem atemberaubenden Tempo und es wird immer noch schneller. Im Kampf um Kapital, Status, Publizität und Wissen drücken wir noch mehr auf das Gaspedal. Eine Bremse scheint gar nicht vorhanden zu sein.
Braucht man ein Paradebeispiel von exponentiellem Wachstum, scheint keine Kurve passender als die des technologischen Fortschrittes:
Gehen wir allerdings einige Jahre bzw. Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück und zoomen etwas in unsere Kurve hinein, hat die Entwicklung wohl eher so ausgesehen:
Hier entstand ein Imperium, florierte und verschwand. Dort spross ein Königreich aus dem Boden, blühte für einige Zeit und löste sich wieder in Luft auf. Da baute sich langsam eine Grossmacht auf, explodierte und implodierte schliesslich.
Natürlich handelte es sich dabei nicht um eine lineare Entwicklung. Entfaltung und Verkümmerung verliefen parallel an unterschiedlichen Orten und beeinflussten sich gegenseitig – doch Fortschritt und Rückschritt waren zwei Seiten derselben Münze.
Ein Höhepunkt war Inbegriff seiner Definition: Der höchste Punkt nach einer Steigung und vor einer Senkung, während heute auf einen Höhepunkt ein weiterer Höhepunkt folgt und ein Niedergang (vermutlich) in weiter Ferne liegt.
Technologie ermöglicht es uns heute, Fehler im System schnell zu erkennen, zu analysieren und zu korrigieren. Wir sind der Natur nicht mehr hilflos ausgeliefert. Wir können speichern, was war und was ist und somit auf dem aufbauen, das wir haben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir noch gar nichts gesehen haben und sich die Entwicklungskurve noch einige Zeit von selbst weiterzeichnen wird:
Wir befinden uns auf der Überholspur, werden schneller und schneller. In guter Hoffnung, dass kein Hindernis auf der Fahrbahn liegt. Denn Bremsen wird immer schwieriger und der Aufprall immer schmerzhafter.
Eine Bremsschwelle ist gar nicht unvorstellbar:
- Was würde passieren, wenn plötzlich die Vereinigten Staaten in sich zusammenbrechen würden?
- Oder wenn die internationale Kommunikation langfristig lahmgelegt würde?
- Oder wenn alle Datenspeicher implodieren und unsere Archive und Bibliotheken in Flammen aufgehen würden?
- Oder wenn wir unser neues Iphone an den Computer anschliessen würden und wir unser altes Backup nicht wiederherstellen könnten?
«Generations of men establish a growing mastery over the earth, but they are destined to become fossils in its soil.» – Will & Ariel Durant
Nur weil wir unsere Umwelt mehr und mehr unter Kontrolle haben, bedeutet das nicht, dass wir alle existenziellen Risiken ausradiert haben. Möglicherweise zwingt uns der Klimawandel, die künstliche Intelligenz oder doch der dritte Weltkrieg zurück auf Feld 1. Und wir starten von neuem…
„Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“ – Albert Einstein
Oder sollten wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen, um zu diskutieren, wie wir diesen unkontrollierten Fortschritt aufhalten können? (Wenn wir dazu überhaupt noch in der Lage sind.)
1 Artikel zur Haager Friedenskonferenz aus dem historischen Lexikon der Schweiz
2 Inspiration vom fantastischen Podcast Hardcore History von Dan Carlin zum Ersten Weltkrieg
3 Wichtiger Hinweis: Ich bin kein Historiker und erhebe keinen Anspruch auf Genauigkeit/Vollständigkeit : )