«Stillstand gibt es nicht» – von Sokrates zu Tinguely

Geschriebenes

Sokrates, der Urvater unserer modernen Philosophie und Denkart, war dem Schreiben abgeneigt und hinterliess keine schriftlichen Werke.1 Wieso? Weil nichts – in diesem Falle natürlich wortwörtlich – seiner Meinung nach in Stein gemeisselt werden sollte. Buchstaben, Worte und Sätze haben einen unveränderlichen und beständigen Charakter. Antworten sind hingegen nie etwas Endgültiges.

Antworten lassen sich nicht wie Bohnen in Aludosen für die kommenden Jahrhunderte konservieren, sondern sind eher so etwas wie ein frischer Smoothie aus reifen Früchten: nur kurz nach Produktion geniessbar und nährreich.

Ein Smoothie lässt sich beschreiben, modellieren, fotografieren oder gar aufbewahren. Doch der Konsum davon ist zeit-, ort- (,kultur-) und geschmacksgebunden. Genauso wie Antworten.

Der Grund, weshalb wir noch heute von Sokrates sprechen und sprechen können, ist selbstverständlich, dass seine Gedanken schriftlich festgehalten wurden – zwar nicht von ihm selbst, aber von seinen Schülern und Nachfolgern. Und Gott sei Dank besitzen wir das Medium der Schrift, um von überlebten Genies wie Goethe oder Newton zu lernen.

Doch auch die Antworten der schlausten Wesen der Menschheitsgeschichte sind nicht mehr als der beste Versuch mit den verfügbaren Mitteln der damaligen Zeit. Und mit den Mitteln verändern sich auch die möglichen Einsichten. Jede Antwort ist eine Momentaufnahme im grösseren, sich wandelnden Prozess des Wissens und des Fortschritts.

«Es bewegt sich alles. Stillstand gibt es nicht. Lasst Euch nicht von überlebten Zeitbegriffen beherrschen. Fort mit den Stunden, Sekunden, Minuten. Hört auf, der Veränderung zu widerstehen. SEID IN DER ZEIT – SEID STATISCH, SEID STATISCH – MIT DER BEWEGUNG. Für Statik, im Jetzt stattfindenden JETZT. Widersteht den angstvollen Schwächeanfällen, Bewegtes anzuhalten, Augenblicke zu versteinern und Lebendiges zu töten. Gebt es auf, immer wieder ‚Werte‘ aufzustellen die doch in sich zusammenfallen. Seid frei, lebt!

Hört auf, die Zeit zu ‚malen‘. Lasst es sein, Kathedralen und Pyramiden zu bauen, die zerbröckeln wie Zuckerwerk. Atmet tief, lebt im Jetzt, lebt auf und in der Zeit. Für eine schöne und absolute Wirklichkeit!»2 

Was der Schweizer Künstler Jean Tinguely (1925-1991) in seinem Manifest Für Statik von 1959 ausformulierte, zeigt sich in physischer Form bei seinen Kunstwerken. Tinguely konstruierte kleinere bis gewaltig grosse Maschinen, die sich bewegen, schweben, krächzen, schreien. In jedem Augenblick das Gleiche. In jedem Augenblick anders. Was Tinguelys Œuvre ausmacht ist die Statik in der Bewegung. Die Beständigkeit in der Veränderung. Das Hier und Jetzt. Das Leben.

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Jean Tinguelys kinetische Skulptur Heureka, 1964, ausgestellt auf dem Zürichhorn

Socrates, The Stanford Encyclopedia of Philosophy.

Das Manifest Für Statik wurde auf Flugblättern gedruckt von Tinguely im März 1959 aus einem Flugzeug über Düsseldorf abgeworfen.

 


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