Meister- oder Leidenschaft? – Cal Newport über die Suche nach beruflicher Erfüllung
GeschriebenesWir kennen sie alle: Die Geschichten von scheinbar vorprogrammierten Karrieren. Wir hörten alle vom Kind, dass sich nur für das Weltall interessierte und heute bei der NASA beschäftigt ist. Wir kennen das musikalische Wunderkind, das seinen Weg in die Reihen der Wiener Philharmoniker geschafft hat. Der renommierte Architekt, der als Kind seine Zeit nur mit Legosteinen verbrachte. Die Meeresbiologin, die bereits auf Kindesbeinen nichts anderes machen wollte, als Delphine zu retten. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie machten ihre Leidenschaft zum Beruf.
Solche Geschichten erwecken den Eindruck, als hätten wir alle tieferliegende Leidenschaften in uns. Eine Art biologischen Trieb, den es nur aufzudecken, zu ergründen und zu entfalten gilt. Doch was ist, wenn wir keine solche Leidenschaft spüren? Oder was, wenn wir uns für verschiedene Dinge faszinieren? Und was, wenn vielleicht keines dieser Dinge in uns ein Feuer entfacht, das wir unser ganzes Leben lang brennen lassen möchten? Was dann?
Dann kann man entspannt durchatmen. Denn vielleicht ist die Leidenschaft nicht der einzige oder gar richtige Weg zur beruflichen Erfüllung. Nein, das ist vielleicht sogar noch ein wenig untertrieben.

Auf 250 Seiten argumentiert der amerikanische Autor und Wissenschaftler Cal Newport in seinem Buch So good they can’t ignore you, weshalb wir uns besser die Ohren zuhalten sollten, wenn uns jemand den Ratschlag «Folge deiner Leidenschaft» mit auf den Weg geben möchte.
Denn tiefgreifende philosophische Fragen wie «Wer bin ich?» oder «Was liebe ich wirklich?» seien nicht nur schwierig zu beantworten, sondern auch unmöglich zu bestätigen. Leidenschaft führe zu Erwartungen und Erwartungen zu Enttäuschungen. Wir werden niemals in der Lage sein, dem Ideal in unseren Köpfen zu entsprechen. Im Gegenteil – wir werden jeweils nur das wahrnehmen, was von unserer Wunschvorstellung abweicht.

Ausserdem lässt das passion-mindset, wie Newport den Glauben an die Erfüllung in der Leidenschaft nennt, einen zentralen Faktor ausser Acht: Die harte Arbeit, die es braucht, um in einem Bereich gut zu werden.
Wie Forschungsarbeiten von Amy Wrzesniewski, eine Professorin im Bereich «Organizational Behaviours» an der Yale Universität, bestätigen, sind die glücklichsten und leidenschaftlichsten Mitarbeiter in einem Unternehmen jene, die ihren Job als eine Berufung ansehen. Und zufälligerweise sind genau diese Arbeiter auch diejenigen, die bereits am längsten ihren Job ausführten und sich die Chance gaben, in ihrem Handwerk aussergewöhnlich gut zu werden.

Dem passion-mindset stellt Newport in seinem Buch das craftsman-mindset gegenüber:
«Whereas the craftsman mindset focuses on what you can offer the world, the passion mindset focuses instead on what the world can offer you.»

Anstatt unserer Leidenschaft zu folgen, sollten wir unseren Job mit der Einstellung eines Handwerkers angehen und uns die Zeit geben, Meisterschaft zu erlangen. Beherrschung gehe über Passion und Fähigkeiten über Träume:
«What you produce is basically all that matters. If you spend too much time thinking whether or not you’ve found your true calling, the question will be rendered moot when you find yourself out of work.»

Newports Argumentation basiert auf der Triebfeder der Ökonomie: Wenn wir etwas wertvolles als Gegenleistung für unsere Arbeit erwarten, dann müssen wir wertvolle Arbeit anbieten (Angebot und Nachfrage 101). Das Ziel des craftsman-mindset ist die Erarbeitung von einzigartigen, seltenen und schwer reproduzierbaren Fähigkeiten. Wenn unsere Arbeit unersetzlich ist, dann sind wir als Handwerker unentbehrlich und werden entsprechend mit Wertschätzung, Einfluss, Zweck und finanziellen Mitteln entlöhnt.
Doch bevor wir uns blindlings in die Arbeit stürzen – diese Herangehensweise eignet sich nicht ganz für jede Art der Beschäftigung. Newport definiert 3 Ausschlusskriterien für das craftsman-mindset:
- Wenn du dich in deinem Job nicht durch den Erwerb relevanter Fähigkeiten hervorheben kannst.
- Wenn sich dein Job auf etwas fokussiert, das nutzlos ist oder der Welt schadet.
- Wenn du dein Arbeitsumfeld und/oder deine Arbeitskollegen nicht ausstehen kannst.

Newports These steckt den Finger in eine Wunde, die mich ständig juckt und nie ganz verheilen will. Es ist die Frage, ob ich mit meiner Lebenszeit das Richtige anstelle. Lohnt es sich wirklich, für das, was ich tue, Zeit aufzuwenden? Was ist mit all den möglichen Alternativen, die mich ebenfalls interessieren? Worauf soll ich mich konzentrieren? Wie soll ich priorisieren? Und wie kann ich mir dabei sicher sein?
So good they can’t ignore you gibt keine befriedigende Antwort auf diese psychologische Unsicherheit. Doch das Buch eröffnet eine pragmatische Perspektive. Ein Aufruf, aus dem eigenen Versteck hervorzukriechen, die Entschuldigungen zur Seite zu schieben und zu machen.
Und machen – da sind wir uns vermutlich einig – ist schliesslich das, worauf es ankommt.

Quelle: Newport, Cal (2012): So Good They Cant Ignore You. Why Skills Trump Passion in the Quest for Work You Love. Grand Central Publishing, New York.
Die Illustrationen stammen aus ‘Lilliput Lyrics … Edited by R. Brimley Johnson. Illustrated by Chas. Robinson’ (Flickr)
Als Vertiefungen zum Thema empfehle ich Anders Ericsson Peak: Secrets from the New Science of Expertise oder den Klassiker Flow: The Psychology of Optimal Experience von Mihaly Csikszentmihalyi.