Die Welt spricht zwei Sprachen: eine wissenschaftliche und eine lyrische

Geschriebenes

«Im Herzen der Sprache – Sprache, die wir für ein integriertes Ganzes hielten, für eine Art grenzenlosen Ozean – haben wir zwei Bereiche mit entgegengesetzten Merkmalen entdeckt», hält Pius Servien in seinem Aufsatz Science et poésie fest und präzisiert. «Wir haben ihnen einen Namen gegeben: die erste, die Sprache der Wissenschaft, die zweite, die lyrische Sprache.»

Formel und Kunstwerk, Rechnung und Gedicht, Beweis und Prosa, Ableitung und Metapher, Axiom und Grammatik, Umformung und Rhetorik. Die Sprache ist ein Werkzeug, um Strukturen und Inhalte zu organisieren und erfahrbar zu machen. Dies kann auf zwei grundsätzlich verschiedene Arten geschehen, wie Servien an der Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und lyrischer Sprache demonstriert.

Worauf Servien hinauswill, ist allerdings nicht die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Lyrik beziehungsweise zwischen Poesie und Forschung an sich. (Wobei dies natürlich auch ein interessanter Untersuchungsbereich darstellen würde…) «Lyrische Sprache» und «Sprache der Wissenschaft» sind lediglich Labels für gegensätzliche Ausdrucksarten. Es sind Bezeichnungen für zwei Sprachpole, die sich nicht zusammenfassen und nicht aufeinander reduzieren lassen. Zwei Untersuchungsfelder, keines besser als das andere. Sondern – in Serviens Worten formuliert – «zwei Bereiche der Konzentration von extremer Schönheit».

Doch worin liegt nun der Kontrast zwischen der lyrischen und der wissenschaftlichen Sprache? Worin besteht ihre Wesensdifferenz? Gilles Deleuze greift in der Einleitung zu seinem Werk Differenz und Wiederholung die Zweiteilung Serviens auf und führt zwei Begriffe ein, um den Unterschied zu erklären: Allgemeinheit und Wiederholung.

Allgemeinheit – das Prinzip der wissenschaftlichen Sprache

5+3=8. Genauso gilt: 2*4=8. Oder: 16/2=8. Oder: 23=8. Es spielt keine Rolle, welcher Term auf der linken Seite des Gleichheitszeichens steht. Die Aussage bleibt dieselbe. Diese Gleichungen sind äquivalent.

Das ist das Besondere an der Mathematik, der reinsten Form der wissenschaftlichen Sprache: Sie wird beherrscht durch das Gleichheitszeichen. Es können Elemente ausgetauscht oder ersetzt werden, ohne dass sich der Ausdruck verändert. Es können Zahlen und Variablen verschoben und umgestellt werden, ohne dass syntaktische Probleme auftreten.

Allerdings kann kein Term durch einen beliebige Alternative ausgewechselt werden. Und die Elemente einer Gleichung können auch nicht willkürlich umhergeschoben werden. Es gibt Regeln. Regeln, die eine Allgemeinheit, eine Allgemeingültigkeit der wissenschaftlichen Sprache ermöglichen. Deleuze identifiziert zwei Ordnungen innerhalb dieser Allgemeinheit. Er schreibt:

«Die Allgemeinheit macht zwei große Ordnungen geltend, die qualitative Ordnung der Ähnlichkeiten und die quantitative Ordnung der Äquivalenzen. Zyklen und Gleichheiten sind deren Symbole. In jedem Fall aber bringt die Allgemeinheit einen Gesichtspunkt zum Ausdruck, demgemäß ein Term gegen einen anderen ausgetauscht oder durch einen anderen Term ersetzt werden kann.» (S. 15)

Bild: Kalligraphieschriften im ägyptischen Stil aus Draughtsmans Alphabet von Hermann Esser (1845–1908). Quelle: https://www.rawpixel.com/image/378061/free-illustration-image-vintage-alphabets-ancient

Wiederholung – die Grundlage der lyrischen Sprache

Wenn man im OpenThesaurus nach dem Synonym von Gefühl sucht, so wird einem u.a. Emotion, Empfindung, Regung oder Ahnung vorgeschlagen. Kann man nun in einem Satz Gefühl durch einen der oben aufgeführten Begriffe ersetzen? Das kann man durchaus. Allerdings verändert man damit die Aussage des Satzes. Die Semantik von Gefühl ist nicht identisch mit der Bedeutung von Emotion. Die Wörter sind zwar sinnverwandt aber nicht äquivalent.

Und es geht noch einige Schritte weiter. Gefühl ist nämlich – je nach Kontext (Satz, Flexionsform, zeitgeschichtliche Epoche, Sprecher, Modalität, usw.) – nicht einmal zwingend identisch mit Gefühl selbst.

Im Gegensatz zur mathematischen Sprache gibt es bei der lyrischen keine Allgemeinheit: Es können weder Begriffe ersetzt noch verschoben werden, ohne dass sich ihre Bedeutung verändert. Aussagen in lyrischer Sprache sind einzigartig – oder im Wortlaut von Deleuze «singulär». Die Wiederholung sei eine Verhaltensweise der lyrischen Sprache, um mit ihrer Unersetzbarkeit umzugehen. Deleuze erklärt:

«Als Verhaltensweise und als Gesichtspunkt betrifft die Wiederholung eine untauschbare, unersetzbare Singularität. Die Spiegelungen, Echos, Doppelgänger, Seelen gehören nicht zum Bereich der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz; und so wenig echte Zwillinge einander ersetzen können, so wenig kann man seine Seele tauschen.» (S. 15)

Wiederholungen im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Wenn man etwas wiederholt, so ist dieses Etwas nicht mehr dasselbe, sondern immer auch etwas Anderes. Die Wiederholung selbst ist etwas Zusätzliches. Durch Wiederholung kann man sich aber an etwas Vorhergehendes erinnern und somit – auf paradoxe Weise – das «Unwiederbringliche wiederholen».

Bild: Kalligraphieschriften im ägyptischen Stil aus Draughtsmans Alphabet von Hermann Esser (1845–1908). 
Quelle: https://www.rawpixel.com/image/378061/free-illustration-image-vintage-alphabets-ancient


Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und lyrischer Sprache und damit zwischen den Prinzipien der Allgemeinheit und der Wiederholung bietet einem die wunderbare Möglichkeit, das eigene Vokabular im Nachdenken über Sprache zu vergrössern. Ob man die Gegenüberstellung aber sinnvoll und plausibel findet oder nicht, darf jeder für sich selber entscheiden. : )

Schön klingen tut es aber auf jeden Fall:

«Man stellt also die Allgemeinheit als Allgemeinheit des Besonderen der Wiederholung als Universalität des Singulären gegenüber. Man wiederholt ein Kunstwerk als begrifflose Singularität, und nicht zufällig muß ein Gedicht auswendig [par cœur] gelernt werden. Der Kopf ist das Organ der Tauschakte, das Herz [cœur] aber das in die Wiederholung verliebte Organ.» (S. 16)


Quellen:
Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, 3. Aufl., München 2007, S. 15-16 (Hervorhebungen im Original)
Servien, Pius: Science et poésie. In: Revue Philosophique de la France Et de l’Etranger 137 (3). 1947, S. 47 – 64. (Frei übersetzt aus dem Französischen.)
Bilder: Zahlen und Buchstaben, Hieroglyphen


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