Plötzliches Coming-of-Age: Mein 50-Cent-Moment

Geschriebenes

Die Kindheit ist eine Entdeckungsperiode. Ein Haufen Neugierde und Weltlust gepaart mit dem Trieb, alles umdrehen, kennenlernen und hinterfragen zu wollen. Doch dieses Verlangen nach Neuem birgt auch Gefahren.

Das Kind soll tappen, spielen, glauben. Aber allein in seinem Kinderzimmer. Es soll entdecken, erfahren und lernen. Aber begrenzt auf das inszenierte Kinderuniversum. Wenn man aber genügend Dinge sieht, anfässt oder wendet, stösst man früher oder später auf etwas, das Eltern, Medien und Institutionen mit Sorgfalt vor der süssen Unschuld der Kindheit zu verbergen hofften.

Der Kontrast zwischen Kindheit und Erwachsenendasein, zwischen Spiel und Realität, zwischen Zensur und Wahrheit mag zu einem gewissen Grad bildungstechnisch Sinn machen. Doch jede Unterscheidung verschiedener Sphären innerhalb desselben Systems eröffnet eine Schwierigkeit: Sie schafft Grenzen. Das Kind überschreitet ins Erwachsenenleben aber selten (oder erst zu spät) in einem kontrollierten Umfeld in Form eines begleiteten rite de passage, sondern plötzlich, unverhofft und persönlich.

Irgendwann erhascht das Kind einen Blick über den Rand seines Plastiktellers. Irgendwann wird das Kind dazu gezwungen, mit Erschrecken, Ekel oder Ehrfurcht in die Höhe bzw. den Abyss der Erwachsenenwelt zu schauen. Irgendwann wird dem Kind die entblösste Wirklichkeit ins Auge fallen, die ihm mit solcher Vorsicht vorenthalten wurde. Und die rosarote Brille zerbricht auf seiner Nase.

Es handelt sich um einen Moment, den man nicht mehr aus dem Gedächtnis verbannen kann. Einen Moment, der die Perspektive auf die Realität drastisch und unumkehrbar verändert. Einen Moment monumentaler Zerstörung der kindlichen Harmonie und Idylle – den Biss in den Apfel im Paradies. Und gleichzeitig ein Moment der Erkenntnis, der Eröffnung eines neuen Zeitalters mit neuen Möglichkeiten und Perspektiven, aber auch ganz viel Schmerz, Leid und nackter Ehrlichkeit.

Ich bezeichne ihn als 50-Cent-Moment. Weshalb? Nun, weil es in meinem Fall etwas mit Musik zu tun hatte. Und richtig, etwas mit 50 Cent.

Es war 2005. Ich befand mich am Ende der ersten Primarschulklasse und wünschte mir auf den Geburtstag eine Stereoanlage. Genau, so ein Ding mit CD-Schlitz, Radioantenne, ultraschwerem Netzteil und zwei Lautsprechern. Zu behaupten, dass ich ein Musikfreak war, ist vielleicht noch ein wenig untertrieben. Ich kannte unsere gesamte CD-Bibliothek auswendig – von Queen über Tina Turner bis zu den Beatles. Ich verpasste an keinem Sonntag, mir die Top-50-Charts der Schweizer Hitparade auf DRS3 anzuhören. Im Musik-Quiz hätte ich vermutlich jeden ausgestochen. Auch hatte ich kürzlich mit Gitarren-Unterricht begonnen. Eine eigene Musikanlage war somit der logische nächste Schritt in meinem emanzipierten Musikstudium.

Mein Götti (schweiz. für Patenonkel) hatte mir zu meinem Geburtstagsfest eine CD mitgebracht, um die neue Anlage gebührend einzuweihen. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen, das ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu deuten wusste, gingen wir in mein Zimmer und er schob die CD ins Gerät hinein. Dann erst gab er mir die Hülle in die Hand. Mein Kiefer fiel herunter. Er spulte zu Track No. 7 vor und drückte den Play-Button. Ein kaltheisser Schauer fuhr mir durch den Körper.

Ich weiss nicht mehr, was es genau war. War es das Cover von The Massacre mit einem dunkelhäutigen, muskulös verschwitzen Mannes mit diamantbesetztem Schmuck auf der Brust, die Kontruren übermalt mit blutartigem Farbauftrag und schmuddeligen Ornamenten im Hintergrund, das mich erschütterte? Oder waren es der drückende Bass von Candy Shop (Youtube|Spotify|Lyrics), der schleppende Rhythmus, die überhebliche Stimmlage von 50 Cent oder das stöhnenden Timbre von Olivia, die mich aufschreckten? Vermutlich alles zusammen. Eins war ich mir aber sicher: So etwas hatte ich noch nie erlebt.

Ich verstand kein Wort Englisch. Hatte kein Vokabular, um die implizite und explizite Erotik des Stücks zu verstehen und zu benennen. Ich wusste nicht, wie lyrische und auditive Andeutungen und Metaphern funktionieren. Hatte kein Wissen über die Hip-Hop-Kultur. Aber ich fühlte etwas.

Ich lächelte verschmitzt. Drehte mich leicht ab. Versteckte mich. Ich fühlte eine leichte Scham, diese Erfahrung zu machen. Die Musik, diese CD, das Ganze, es war, es war, wie soll ich sagen…

… unanständig!

Und doch war es bloss ein Stück Musik. Bloss ein Bild auf einer CD-Hülle. Und gleichzeitig so viel mehr.

Wenn ich daran zurückdenke, muss ich lachen, aber in jenem Augenblick öffnete mir dieser 50-Cent-Moment die Augen: Er schleuderte mich auf die andere Seite meines vorgehaltenen Spiegels, riss mir gewaltsam die Windeln vom Leib. Er zeigte mir, was ich noch nicht wusste, kannte, glaubte. Er zeigte mir die andere Art.

Heute ist Candy Shop vermutlich eines der meistgespielten Stücke in meiner Itunes-Bibliothek, zusammen mit vielen weiteren aus dem «Gangsta-Rap»-Genre. Und die Verbindung zu diesem Stück, dieser Musik spüre, wird mich vermutlich noch (m)ein Leben lang begleiten.

Dass ich auf auf diese abrupte Art und Weise erwachsen wurde, verdanke ich nicht nur meinem Götti und meinem Geburtstagswunsch, sondern auch – und vor allem – einer Menge Zufall. Denn wären es nicht Musik und nicht 50-Cent gewesen, so früher oder später garantiert irgendetwas anderes.

Was war dein 50-Cent-Moment?


Bilder:
1. Flammarions Holzstich aus dem Kapitel ‘La forme du ciel’ im Werk L’Atmosphère des Astronomen Camille Flammarion, Paris 1888.
2. Print mit dem Titel Monster Soup commonly called Thames Water vom britischen Künstler Wiliam Heath, ca. 1828. Credit: Wellcome Collection. (CC BY)


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