Umwelten

Geschriebenes

Heute sprechen wir von ‘Umwelt’ meist im Singular, als Bezeichnung für die Gesamtheit an Lebensbedingungen, die Organismen (Menschen, Tiere, Pflanzen, Pilze, etc.) umgeben. Wirft man allerdings einen Blick auf die Begriffsgeschichte, fällt auf, dass ‘Umwelt’ vorerst in der Pluralform Eingang in die Ökologiedebatte (avant la lettre) fand.

Der estnische Ethologe und Zoologe Jakob von Uexküll definierte den Begriff ‘Umwelt’ 1909 als die egozentrische Erfahrungswelt eines Lebewesens. Im Kontrast zur geteilten objektiven Lebenswelt – der ‘Umgebung’ –, die nur als theoretisches Konstrukt begreifbar sei, sei jede Umwelt’ von der einzigartigen Wahrnehmung jedes Organismus’ abhängig.

Weil folglich keine Umwelt für zwei Lebewesen identisch ist, ist es naheliegend, von ‘Umwelten’ zu sprechen. Die Pluralform legt den Fokus auf die Differenzen der individuellen Lebenswelten und gibt der subjektiven Färbung der Umgebung an Bedeutung. Diese Sichtweise lädt dazu ein, auf Generalisierungen zu verzichten und stattdessen mittels Empathie und Vorstellungskraft alternative Umwelten zu erschließen. Wie das funktionieren könnte, illustriert Uexküll 1958 in Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen: Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten:

«Die Umwelten, die ebenso vielfältig sind wie die Tiere selbst, bie­ten jedem Naturfreunde neue Länder von solchem Reichtum und solcher Schönheit, daß sich ein Spaziergang durch dieselben wohl lohnt, auch wenn sie sich nicht unserem leiblichen, sondern nur un­serem geistigen Auge erschließen. Wir beginnen einen solchen Spaziergang am besten an einem son­nigen Tage vor einer blumenreichen Wiese, die von Käfern durch­summt und von Schmetterlingen durchflattert ist, und bauen nun um jedes der Tiere, die die Wiese bevölkern, eine Seifenblase, die ihre Um­welt darstellt und die erfüllt ist von allen jenen Merkmalen, die dem Subjekt zugänglich sind. Sobald wir selbst in eine solche Seifenblase eintreten, gestaltet sich die bisher um das Subjekt ausgebreitete Um­gebung völlig um. Viele Eigenschaften der bunten Wiese verschwin­den völlig, andere verlieren ihre Zusammengehörigkeit, neue Bindun­gen werden geschaffen. Eine neue Welt entsteht in jeder Seifenblase.» (S. 22)


Bild: Der Rosenweg in Giverny (ca. 1920) von Claude Monet — Quelle.


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