
Etwas fällt sofort auf: dem heutigen Beitrag fehlt der Titel.
Bei jedem anderen Artikel steht ein Titel an erster Stelle. Hier nicht. Normalerweise kündet der Titel den Inhalt an und gibt der Lektüre einen Fokus. Dies fällt weg. Der Titel wird von den Suchmaschinen indexiert. Wird heute schwierig. Er dient gewöhnlich der Archivierung und Orientierung auf der Website. Dieses Mal nicht.
Der fehlende Titel sticht deshalb ins Auge, weil man ihn erwartet. Er gehört als ästhetisches und technisches Element zu einem Beitrag wie diesem dazu. Wird der Titel weggelassen, verschwindet er nicht spurlos, sondern hinterlässt eine Lücke. Und diese Lücke stiftet Bedeutung. Man kann nämlich gar nicht anders, als in Reaktion auf die enttäuschte Erwartung die Frage zu stellen, weshalb der heutige Beitrag von den etablierten Normen und Traditionen abweicht bzw. was das bedeuten könnte.
Diesem Phänomen hat der russische Literaturtheoretiker Jurij M. Lotman (1922-1993) den Namen «Minusverfahren» (minus-prijomy) gegeben: Durch die bewusste Weglassung ist etwas offensichtlich abwesend und dadurch immer noch latent vorhanden. Ob da oben also ein Titel steht, oder eben nicht – man wird ihn nicht ganz los.
Bild: Bearbeitung des Plakats Liquer Cordial-Médoc, G. A. Jourde – Bordeaux (1907) von Leonetto Cappiello, Library of Congress – Quelle.
Zur Vertiefung: Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. München 1993.