Erfinderische Gefühle

Geschriebenes

«Ich könnte mir denken», schreibt Friedrich Nietzsche im zweiten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, «daß ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfaß durchs Leben rollte […]»

Gefühle gehen nahe. So nahe sogar, dass einen die brutale Unmittelbarkeit und Echtheit dazu zwingt, in die andere Richtung zu schauen. Und weil man genau weiß, wie unmittelbar und echt die Gefühle sind, bemüht man sich umso mehr, diese Nähe zu maskieren und eine möglichst glaubwürdige Alternative zu imaginieren. Denn wenn man die Täuschung auflösen und den Gefühlen in die Augen schauen würde, was bliebe dann von diesen übrig? Oder wie Nietzsche weiter ausführt:

«Es gibt Vorgänge so zarter Art, daß man gut tut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen; es gibt Handlungen der Liebe und einer ausschweifenden Großmut, hinter denen nichts rätlicher ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln, damit trübt man dessen Gedächtnis. Mancher versteht sich darauf, das eigne Gedächtnis zu trüben und zu mißhandeln, um wenigstens an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben – die Scham ist erfinderisch.»


Literatur: Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden (Band 2). München 1954, S. 603-604.

Bild: Detail aus Harlekijn (ca. 1899) von Samuel Jessurun de Mesquita, Rijksmuseum – Quelle.


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