«Ah, deshalb…» – Über die Wirkung von guten Geschichten

Geschriebenes

«Weil» ist ein interessantes Wörtchen.

«Weil» steht für eine Kausalität, einen Grund, eine Erklärung. «Weil» verknüpft unterschiedliche Elemente miteinander. «Weil» macht aus Einzelheiten einen grösseres Ganzes. «Weil» erzählt mit Szenen eine Geschichte.

In einer Studie von 1989 stellte die Sozialpsychologin Ellen Langer fest, dass wir eher dazu neigen, einer anderen Person einen Gefallen zu tun, wenn wir dafür einen expliziten Grund erhalten würden. (Vgl. Influence, S. 4) Langer demonstrierte diese Tatsache, indem sie in einer Bibliothek Personen in der Schlange vor dem Kopierer fragte:

(1) «Entschuldigung, ich habe 5 Seiten. Könnte ich den Kopierer benutzen?»

60% der wartenden Personen zeigten sich hilfsbereit und liessen Langer vortreten. Als aber an die Bitte das Wörtchen «weil» gefolgt von einem plausiblen Grund anhängt wurde, steigerte sich ihre Erfolgschance auf überwältigende 94%:

(2) «Entschuldigung, ich habe 5 Seiten. Könnte ich den Kopierer benutzen, weil ich es eilig habe?»

Dieses Resultat scheint auf den ersten Blick nicht überraschend. Jemanden in Eile vorzulassen wirkt ganz natürlich. Für die höhere Erfolgsquote scheint nicht das Wörtchen «weil» verantwortlich, sondern die inhaltliche Ergänzung, dass sie es eilig habe. Die nächste Phase der Studie ist allerdings die wirklich interessante. In einem dritten Versuch wurde der Bitte nämlich ein «weil» hinzugefügt, ohne danach eine neue Information anzufügen:

(3) «Entschuldigung, ich habe 5 Seiten. Könnte ich den Kopierer benutzen, weil ich Kopien machen muss?»

Dass Langer einige Kopien zu machen möchte, ist im geschilderten Kontext offensichtlich. Als Grund für ihre Bitte wiederholte sie lediglich, das was sie bereits gesagt hatte. Und dennoch, erneut liessen sie beinahe 93% der Personen in der Schlange vortreten!

Wenn wir einen Grund angeben, dann kreieren wir einen Narrativ. Wir betten die Ereignisse in eine Geschichte ein, die es dem Zuhörer einfacher macht, sich mit unserer Situation zu identifizieren und davon beeinflussen zu lassen.

Den Effekt eines Narrativs auf die Urteilsfähigkeit des Gegenübers untersuchten die einflussreichen Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahnemann in ihrer umfassenden Studie zu Heuristiken und kognitiven Verzerrungen. Der Conjunction Effect (deutsch: Verknüpfungseffekt) beschreibt die Beobachtung, dass das Auftreten einer Verknüpfung von zwei Ergeinissen (A und B) als wahrscheinlicher eigeschätzt wird als das Auftreten eines einzelnen Ereignisses (entweder A oder B).

Die Regel der Verknüpfung besagt, dass die Wahrscheinlichkeit vom gleichzeitigen Auftreten zweier Ereignisse immer kleiner ist als bei einem einzelnen. Dass z.B. eine Person X rote Haare (A) hat, ist viel wahrscheinlicher, als dass eine Person X rote Haare hat und 1.68 gross ist (A und B). Denn die Aussage «Eine Person X hat rote Haare» trifft auf Menschen aller Körpergrössen zu, die rote Haare besitzen und nicht nur auf Personen, die 1.68 gross sind.

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Dennoch hält uns diese einleuchtende mathematische Tatsache nicht davon ab, diesem Fehler in der Praxis immer wieder zu verfallen. Der Verknüpfungsfehler wird Linda-Problem genannt – benannt nach einem der bekanntesten Experimente in der Sozialpsychologie von Kahnemann und Tversky. Bei der Untersuchung wurde der Testgruppe die Personenbeschreibung einer Frau mit dem Namen Linda vorgelegt. Die Beschreibung lautete wie folgt.

Linda ist 31 Jahre alt, ledig, direkt und sehr intelligent. Sie hat einen Abschluss in Philosophie. Als Studentin beschäftigte sie sich aktiv mit Diskriminierung und sozialer Gerechtigkeit und nahm auch an Anti-Atomenergie-Demonstrationen teil. (frei übersetzt aus dem Englischen)

Die Testpersonen wurden anschliessend gefragt, welche der folgenden zwei Aussagen wahrscheinlicher sei:

(A) Linda ist eine Bankangestellte
(B) Linda ist eine Bankangestellte und ist Teil der feministischen Bewegung.

Eine grosse Mehrheit (ca. 86%) entschied sich für Aussage (B). Die Personenbeschreibung lässt vermuten, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Linda eine Feministin ist, als eher hoch und diejenige, dass sie eine Bankangestellte ist, als eher niedrig einstufen lässt. Jedoch handelt es sich bei Aussage (B) um eine Verknüpfung von zwei Ereignissen. Und wie oben besprochen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Verknüpfung immer kleiner als die Wahrscheinlichkeit, dass eines der zwei Ereignisses einzeln auftritt.

Lass uns davon ausgehen, dass – anhand der Beschreibung – die Wahrscheinlichkeit, dass Linda eine aktive Feministin ist bei 80% und dass sie eine Bankangestellte ist bei 5% liegt. So ist die Wahrscheinlichkeit von Aussage (A) 5%, während die von Aussage (B) (0.05 x 0.8) 4% beträgt. Option (A) schliesst schliesslich nicht aus, dass Linda zudem eine Feministin ist.

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Interessant ist hier festzuhalten, dass eine Testgruppe bestehend aus Psychologie-Studenten, die ein gewisses Vorwissen in Statistik mitbrachten, besser abschnitten und «nur» ca. 50% der Studenten die falsche Antwort auswählten. Allerdings verschwand der Unterschied zwischen den statistisch Naiven und Bewanderten, als die Aussagen (A) und (B) in eine Liste von acht vergleichbaren Aussagen zu Linda eingebettet wurden, die nach der Reihenfolge ihrer Wahrscheinlichkeit geordnet werden sollten.

Wieso machen wir diesen Fehler? Wieso lassen wird uns so einfach täuschen von etwas, dass in abstrahierter Form so einfach und überzeugend wirkt? Tversky und Kahnemann erklärten das Ergebnis damit, dass wir die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nicht rational-mathematisch, sondern anhand des Grades ihrer Repräsentativität berechnen. Dies nennt sich Repräsentativitätsheuristik: Die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit einer bestimmten Person zu einer sozialen Gruppe wird daran gemessen, wie stark die Person dem Stereotypen der Gruppe ähnelt. Die Personenbeschreibung von Linda erinnert uns an die Beschreibung einer «typischen» Feministin. Weil eine Aussage repräsentativer wirkt, je spezifischer sie ist, kann eine Verknüpfung also wahrscheinlicher erscheinen als ihre isolierten Komponenten. (Vgl. N.d.Z., S. 249)

Besonders bei unwahrscheinlichen Ereignissen tendieren wird dazu, detailliertere Szenarien als wahrscheinlicher zu beurteilen. In einer ähnlichen Studie wurde eine Testgruppe gefragt, ob es wahrscheinlicher sei, dass (C) eine Flut in Nordamerika 1’000 Menschen töte oder dass (D) ein Erdbeben in Kalifornien eine Flut auslöse, die 1’000 Menschen töte. Dass sich die Mehrzahl der Befragten für Szenario (D) entschied, sollte uns mittlerweile nicht mehr verwundern. Eine Flutwelle – ausgelöst durch ein Erdbeben – passt in unsere Mustervorstellung einer verheerenden Naturkatastrophe: Wir haben sofort Bilder von eingestürzten Häusern, schreienden Menschen und gefluteten Strassen im Kopf. Szenario (D) wirkt repräsentativer und deshalb wahrscheinlicher.

Was können wir aus diesen Erkenntnissen mitnehmen?

Die Logik der Wahrscheinlichkeit ist nicht kompatibel mit der Logik der Repräsentativität. Unsere Aufmerksamkeit gilt dem Anschaulichen, nicht dem Abstrakten. Emotionen beeinflussen unsere Einschätzung von Wahrscheinlichkeit und Risiko. Oder kurz: Wir sind anfällig für gute Geschichten, auch wenn diese möglicherweise trügerisch sind.

«A good story is often less probable than a less satisfactory one.» (J.u.u., S.98)

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Quellen:

Cialdini, R. B. (2007). Influence: The Psychology of Persuasion. New York: Collins.

Kahneman, D., Slovic, P., & Tversky, A. (1982). Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Cambridge: Cambridge University Press.

Taleb, N. N. (2013). Narren des Zufalls: Die unterschätzte Rolle des Zufalls in unserem Leben: Aus dem Amerik. von Patricia Künzel (5th ed.). München: Btb.


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