Drei Augen

Geschriebenes

Der Augustiner-Mönch Hugo von St. Victor (1097 – 1141) entwickelte ein faszinierendes Schema der Erkenntnis. Einsicht in die Wahrheit der Dinge, so heisst es bei St. Victor, geschehe über das Sehen. Allerdings reicht es dazu nicht aus, die Dinge mit dem Augapfel wahrzunehmen. Die Seele besitze nämlich nicht ein einziges, sondern insgesamt drei Augen, die im Prozess der Erkenntnis involviert sind:

  1. Das Auge des Fleisches sieht die äussere Welt und ermöglicht die Wahrnehmung sinnlicher Dinge und körperlicher Bedürfnisse.
  2. Das Auge der Vernunft gibt Einblick in innere Begebenheiten und macht psychologische, soziale und ethische Tatsachen sichtbar.
  3. Das Auge der Anschauung (bzw. der Selbstbetrachtung) lässt einem mit ganz viel Feingefühl und Eingebung grundlegende Lebensprinzipien freilegen (– was in der Sprache des christlichen Mönches natürlich den Namen «Gott» trägt).

Bemerkenswert daran ist, dass St. Victors Konzeption vorschlägt, nicht bei der unmittelbaren Erscheinung Halt zu machen, sondern mit einem frischen Augenpaar, einer neuen Perspektive, das Gesehene zu hinterfragen und weiterzudenken. So wie das Sinnliche, die Reflexion oder das Spirituelle allein möglicherweise nicht ausreicht, um eine Tatsache zu interpretieren, so ist vielleicht das vertrauteste Augenpaar alleine nicht in der Lage, ein adäquates Urteil zu fällen.


Bild: Adaptation einer Schädel-Illustration von Emma Dent (1877) – Quelle.


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