Dachgebälk
Geschriebenes
Mit 38 Jahren, im Februar 1571, zog sich Michel de Montaigne für einige Jahre aus seinem politischen und sozialen Leben zurück und schloss sich in seiner Turmbibliothek ein. Isoliert von seinen alltäglichen Verpflichtungen widmete er seine Zeit dem, was ihm am liebsten war – seinen Büchern.
Auf die 53 Deckenbalken seines Studierzimmers liess er seine Lieblingszitate aus antiken philosophischen und religiösen Texten einbrennen. Das Dachgebälk des Zimmers war somit nicht nur für die Stabilität der physischen Bibliothek verantwortlich sondern fungierte gleichzeitig als Stützwerk von Montaignes geistigem Denkraum. Von seinem Schreibtisch hatte er so jederzeit die Wortgewalt seiner Vorbilder vor Augen, ein massives Reservoir an Inspiration zur Verfügung und ein intellektuelles wie moralisches Koordinatensystem nachdem er seine eigenen Gedanken ordnen und formen konnte.
Das Resultat der mehrjährigen, intimen Auseinandersetzung mit seinem Wissensschatz war ein bunte Sammlung eigener literarischer Versuche über das Leben – die Themen der Texte reichten von Erziehung, über Lügen, von Freundschaft bis hin zu Politik – die mit dem Titel Die Essais ein neues literarisches Genre begründete und eine jahrhundertelange Rezeptionsgeschichte anstiess.
Anbei sind die 53 Zitate der Deckenbalken Montaignes aufgelistet: (übernommen aus Wikipedia)
1. Balken | Extrema homini scientia ut res sunt boni consulere, caetera securum. | Höchstes Geschick des Menschen ist es, die Dinge zu nehmen wie sie sind, und das Übrige nicht zu fürchten. |
2. Balken aus Prediger, I, 13 | Cognoscendi studium homini dedit Deus eius torquendi gratia. | Solche unselige Mühe hat Gott den Menschen gegeben, dass sie sich damit quälen müssen. |
3. Balken von Ioannis Stobaei Sententiae | Τους μέν κένους άσκούς τό πνεύμα διίστησι, τούς δε άνοήτους άνθρώππυς τό όίημα. | Die leeren Schläuche bläst der Wind auf, den leeren Kopf der Dünkel. |
4. Balken aus Prediger, IX, 3 | Omnium quae sub sole sunt fortuna et lex par est. | Alles unter der Sonne hat gleiches Schicksal und Gesetz. |
5. Balken von Sextus Empiricus, Hypot., I, 19 | Ού μάλλον ούτως έχει ή έκείνως ή ούδετέρως. | Ebenso wenig ist es so, noch so, als vielmehr auf keine Weise von beiden. |
6. Balken | Nullius vel magnae vel parvae earum rerum quas Deum tam multas fecit notitia in nobis est. | In uns ist keinerlei Kenntnis dessen, ob groß oder klein, was Gott so mannigfaltig geschaffen hat. |
7. Balken aus Sophokles, Ajax, V, 124 | Όρώ γάρ ήμάς ρύδέν όντας άλλο πλήν είδωλ’ δσοιπερ ζώμεν ή χούφην σκιάν. | Ich sehe, dass wir alle, die wir leben, nichts sind als Schemen oder flüchtige Schatten. |
8. Balken von Lucrez: De rerum natura. II, 14 | O miseras hominum mentes O pectora caeca qualibus in tenebris vitae, quantisque periclis degitur hoc aevi quodcunque est! | Ach unselige Geister, blinde Herzen des Menschen! In welch finsterer Nacht, und unter welchen Gefahren wird dies Leben verbracht mit unbestimmter Dauer! |
9. Balken von Ioannis Stobaei Sententiae | Κρίνει τίς άυτόν πώπούσ’ όλον. | Wer je an seine Menschengröße glaubt, den stürzt die erste beste Gelegenheit in gänzliches Verderben. |
10. Balken von Lucrez, VI, 668 | Omnia cum coelo terraque marique. Sunt nihil ad summam summaï totius. | Himmel, Erde und Meer, sie alle sind nichts gegen die Summe der Summen des nie zu ermessenden Ganzen. |
11. Balken aus Sprüche Salomonis, XXVI, 12 | Vidisti hominem sapientem sibi videri? Magis illo spem habebit insipiens. | Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, dann ist von einem Narren mehr zu erhoffen. |
12. Balken aus Prediger, XI, 5 | Sicut ignoras quomodo anima conjungatur corpori sic nescis opera Dei. | Da du nicht weißt, wie die Seele mit dem Körper verbunden ist, kennst du nicht Gottes Werk. |
13. Balken von Sextus Empiricus, Hypot., I, 21 | Ενδέχεται και ούκ ενδεχεται. | Dieses ist möglich und nicht möglich. |
14. Balken von Platon, Kratylos | Aγαδόν ἀγαςτόν. | Bewundernswert ist das Gute. |
15. Balken Paulus / Erasmus | κέραμος ἄνθρωπος. | Der Mensch ist wie ein tönernes Geschirr. |
16. Balken aus Paulus Apostolus Segregatus Ad Evangelium Dei Rom, XII, 16 | Nolite esse prudentes apud vosmetipsos. | Haltet euch nicht selbst für weise. |
17. Balken von Ioannis Stobaei Sententiae, De superbia, sermo XXII | Ή δεισιδαιμονία καδάπερ πατρί τώ τύφώ πείδεται. | Der Aberglaube folgt seiner eigenen Blindheit mit kindlichem Vertrauen. |
18. Balken von Herodot, VII, 10 | Ού γάρ έά φρονέειν ό δεός μέγα άλλόν ή έωυτόν. | Denn es lässt der Gott nicht zu, dass ein anderer außer ihm sich für groß erachte. |
19. Balken von Martial X, 47 | Summum nec metuam diem nec optem. | Den letzten Tag sollst du nicht fürchten und nicht ersehnen. |
20. Balken aus Prediger XI, 6 | Nescis, homo, hoc an illud magis expediat, an aeque utrumque. | Du weißt nicht, Mensch, ob dies oder das besser ist, oder ob beides gleich gut ist. |
21. Balken von Terenz, Heautontimoroumenos I,1 | Homo sum, humani a me nihil alienum puto. | Mensch bin ich, nichts Menschliches ist mir fremd. |
22. Balken aus Prediger, VII,17 | Ne plus sapias, quam necesse est, ne obstupescas. | Sei nicht weiser als nötig, dass du dich nicht verderbest. |
23. Balken aus Paulus Ad Corinthus | Si quis existimat se aliquid scire, nondum cognovit quomodo oporteat illud scire. | Wenn sich jemand einbildet, etwas zu wissen, hat er noch nicht die Einsicht, wie man wissen soll. |
24. Balken aus Paulus, Ad Galat., 6 | Si quis existimat se aliquid esse, cum nihil sit, ipse se seducit. | Wenn jemand, da er noch nichts ist, wähnt, er sei etwas, so irrt er als Tor. |
25. Balken aus Paulus, Ad. Rom., 12 | Ne plus sapite quam oportet, sed sapite ad sobrietatem. | Seid nicht weiser als geboten ist, aber freilich mit Maß. |
26. Balken | Καί τό μέν ούν σαφές ούτις άνήρ ίδεν έσται έίδώς. | Und niemals aber wusste ein Mann etwas Gewisses, noch wird es einer wissen. |
27. Balken von Euripides, aus einer verlorenen Tragödie | Τίς δ’ οίδεν εί ζήν τούδ’, ό κέκληται δανείν, το ζήν δε δνήσκεν έστι; | Wer aber weiß, ob das, was Sterben heißt, nicht Leben, dass leben aber Sterben ist? |
28. Balken aus Prediger, I, 8 | Res omnes sunt difficiliores quam ut eas possit homo consequi. | Die Dinge sind so komplex, dass dem Menschen die Worte fehlen. |
29. Balken | Έπέον δε πολύς νόμος ένδα καί ένδα. | Hier wie dort, ein weites Feld der Worte. |
30. Balken von Lucrez, IV, 598 | Humanum genus est avidum nimis auricularum. | Allzu sehr ist das Geschlecht der Menschen auf Fabeln erpicht. |
31. Balken von Persius, I, 4 | Quantum est in rebus inane. | Wie leer ist doch alles! |
32. Balken | Per omnia vanitas. | Alles ist eitel. |
33. Balken von Lucan, XI, 381 | Servare modum, finemque tenere, naturamque sequi. | Maß bewahren, Grenzen einhalten, der Natur folgen. |
34. Balken | Quid superbis, terra et cinis? | Was überhebst du dich, Staub und Asche? |
35. Balken aus Jesaia, V, 21 | Vae qui sapientes estis in oculis vestris. | Wehe denen, die sich selbst für klug halten. |
36. Balken aus Prediger, III, 22 | Fruere jucunde praesentibus caetera extra te. | Freue dich an der Gegenwart, der Rest ist nicht erreichbar. |
37. Balken von Sextus Empiricus, Hypot., I, 6 | Πάντι λόγος ίσος άντίκειται. | Jedem Grunde steht ein gleicher gegenüber. |
38. Balken von Michel de l’Hôpital | Nostra vagatur in tenebris nec caeca potest mens cernere verum. | Im Dunkeln irrt unser Geist, und blind vermag er die Wahrheit nicht zu unterscheiden. |
39. Balken aus Prediger, VII, 1 | Fecit Deus hominem similem umbrae de qua post solis occasum quis judicabit? | Gott hat den Menschen gleich einem Schatten geschaffen. Wer soll diesen richten, wenn die Sonne untergegangen ist? |
40. Balken von Plinus, Hist. nat. II, 7 | Solum certum nihil esse certi et homine nihil miserius aut superbius. | Das einzig Gewisse ist, dass nichts gewiss ist, und nichts elender und aufgeblasener als der Mensch. |
41. Balken | Ex tot Dei operibus nihilo magis quidquam homini cognitum quam venti vestigium. | Von allen Werken Gottes ist dem Menschen nicht mehr bekannt als die Spur des Windes. |
42. Balken von Euripides, Hippolytos, 104 | Αλλοισιν άλλος δεών τε κ’ άνδρώπων μέλει. | Unter Göttern wie unter Menschen, die Geschmäcker sind verschieden. |
43. Balken | Έφ’ ώ φρονείς μέγιστον, άπολεί τούτό σε, τό δοκείν τίν’ είναι. | Was dich am höchsten dünkt, der Wahn, etwas zu sein, er wird dich verderben. |
44. Balken von Epiktet, Enchiridion, X | Παράσσει πούς άνδρώπους ού τά τά πράγματα, άλλά τά περί τών πραγμάτον δόγματα. | Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge. |
45. Balken von Ioannis Stobaei Sententiae, De superbia | Καλόν φρονείν τόν δνητόν άνδρώποις ίσα. | Dem Sterblichen gebührt es, menschlich zu denken. |
46. Balken von Horaz, Carm. II, 11 | Quid aeternis minorem consiliis animum fatigas? | Was plagst du mit ewigen Plänen deinen unmündigen Geist? |
47. Balken aus Psalmen, XXXVI, 7 | Iudicia domini abyssus multa. | Die Entscheidungen des Herrn sind abgrundtief. |
48. Balken von Sextus Empiricus Hypot., I, 22, 23, 26 | Ούδέν όρίζω. Ού καταλαμβάνω. Έπέχω. Σκέπτομαι. | Ich bestimme nichts (setze nichts fest). Ich verstehe nicht. Ich enthalte mich des Urteils. Ich erwäge. |
49. Balken | More duce et sensu. | Geleitet von den Sitten und den Sinnen. |
50. Balken | Iudicio alternante. | Im Wechsel urteilen. |
51. Balken | Άκαταληπτώ. | Ich begreife nicht. |
52. Balken | Ούδέν μάλλον. | Ebenso wenig. |
53. Balken | Άρρεπώς. | Ohne Schwanken. |
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Bild: Holzbalkendecke mit Einschubbrettern im Bibliotheksturm. Digital bearbeitet. Von Mcleclat – Quelle (CC BY-SA 3.0).