«Vielleicht»
Geschriebenes
Es scheint ziemlich schwierig, auf meinem Blog am Wörtchen «vielleicht» vorbeizukommen. In fast jedem Artikel, in fast jedem Gedanken und in fast jedem Argument ist ein «Vielleicht» verwoben. Wo es nicht explizit genannt wird, da ist es in der Regel unterschwellig mitgedacht. Weshalb?
1. Ich mag den konjunktivischen Charakter
«Vielleicht» eröffnet ein Feld der Möglichkeiten, es skizziert Optionen, zeigt verschiedene Wege auf, ohne dabei dogmatisch zu sein, ohne auszuschliessen, ohne zu diskriminieren. «Vielleicht» ist absolute Liberalität. «Vielleicht» ist reine Potenz. «Vielleicht» ist Allgemeinheit und Spezifität zugleich. Was brauche ich da noch zu ergänzen?
«Im Konjunktiv denken. Im Licht der Geschichte und der Zukunft nach Optionen, Möglichkeiten suchen. (…) Etwas lauert an den Rändern des Wahrscheinlichen.»
Alexander Kluge, Spiegel-Gespräch, 2012
2. Ich kenne die Antwort nicht
Neben dem stilistischen Aspekt hat «vielleicht» auch eine strategische Komponente. Es erlaubt mir, etwas zu sagen, was ich nicht mit Sicherheit weiss, was aber möglich sein könnte. «Vielleicht» ist kein Schlusswort (im doppelten Sinne), sondern ein Tanz mit Gedanken. Es ist ein Prozessmarker, ein Anker für Abwegiges, Verrücktes, Schräges und Eigenartiges, das nicht von vornherein ausgeschlossen werden sollte. Denn ausschliessen sollte man meiner Meinung nach nur dann, wenn man die Antwort kennt. Und das tue ich in der Regel nicht.
3. Ich will mich nicht festlegen
Klar, ich muss zugeben: «Vielleicht» bedeutet nicht nur Ermöglichung, sondern auch Relativierung. Baut man ein «Vielleicht» ein, so entzieht man sich der Verantwortung. Was man sagt, ist schliesslich kein Statement, sondern eine Möglichkeit. Statements können kritisiert werden, Möglichkeiten bleiben in ihrer Schwebe unantastbar. Das ist einerseits schlau, andererseits etwas feige.
Doch wo, wenn nicht hier, darf ich schreiben, was ich will, denken, wie ich will, mich der Kritik entziehen, wann ich will? Gerade hier muss «vielleicht» nicht politisiert werden. Gerade hier darf «vielleicht» das sein, was es sein kann und nicht das, was es sein muss.
«Im täglichen Leben ist »vielleicht« eine Fiktion, auf Papier ist »vielleicht« ein Experiment», wie der Theatermacher Peter Brook leicht adaptiert formuliert hat. «Im täglichen Leben ist »vielleicht« ein Ausweichen, auf Papier ist es die Wahrheit».
Gut, wenn ich ehrlich bin, habe ich das Zitat ziemlich stark für meine Zwecke verbogen. Ich hoffe, das geht in Ordnung. Tut es das?
Vielleicht.
Anmerkungen:
Das ursprüngliche Zitat von Peter Brook lautet: „Im täglichen Leben ist »wenn« eine Fiktion, im Theater ist »wenn« ein Experiment. Im täglichen Leben ist »wenn« ein Ausweichen, im Theater ist es die Wahrheit“
Bild: Skyscape with birds flying from Bijutsu Sekai (1893-1896) by Watanabe Seitei – Quelle.