Tschernyschewski und der Köder für eine wahrhafte Erzählung | Literaturbrocken #17

Geschriebenes

Der Roman beginnt in medias res mit dem angeblichen Selbstmord eines mysteriösen Mannes. Die ersten beiden Kapitel fächern den Trubel, den ganzen Klatsch und die Konsequenzen des seltsamen Verschwindens auf. Im dritten Kapitel von Tschernyschewskis Was tun? von 1863 wird die Handlung allerdings von etwas unterbrochen, das man an dieser Stelle nicht erwarten würde: einem Vorwort. In einer direkten Ansprache an seine*n Leser*in erklärt der Autor, was es mit dem geheimnistuerischen Anfang der Geschichte auf sich hatte:

“Du hast einen schlechten Spürsinn; was dich zum Lesen bestimmt sind zwei Dinge: entweder der Name des Autors oder die effektvolle Darstellung. Ich aber erzähle dir meine erste Geschichte; du hast dir noch kein Urteil bilden können, ob der Autor auch mit dichterischem Talent begabt ist (in der Tat, es gibt so viele Schriftsteller, denen du dichterisches Talent nachsagst!), mein Name allein hätte dich also noch nicht verlockt, so mußte ich dir eine Angel mit dem Köder des Effekts zuwerfen. […] Doch jetzt bist du in meine Fänge geraten, und ich kann die Erzählung so fortsetzen, wie es meiner Ansicht nach notwendig ist: ohne alle Kunstgriffe.” (S. 21)

Nachdem mit billiger Effekthascherei die Aufmerksamkeit des Publikums erlangt wurde und sein unrühmliches Leseverhalten entblößt ist, ergreift der Autor die Gelegenheit, sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Es sollen schließlich alle Illusionen aus dem Weg geräumt werden, um im Folgenden der Wahrheit und Wahrhaftigkeit die Bühne zu überlassen:

“Ich besitze keinen Funken künstlerischen Talents. Ich beherrsche nicht einmal die dichterische Sprache. Aber das alles macht nichts. […] Die Wahrheit ist eine gute Sache: Sie entschädigt für die Mängel eines Schriftstellers, der ihr dient. Deshalb sage ich dir: Wenn ich dir das nicht vorher gesagt hätte, möchtest du am Ende glauben, die Erzählung sei mit künstlerischen Mitteln geschrieben und der Autor verfüge über großes dichterisches Talent. Aber ich habe dir ja vorher mitgeteilt, daß ich kein Talent besitze- du weißt also jetzt, daß die Erzählung allen Wert lediglich aus ihrer Wahrhaftigkeit schöpft.” (S. 22)

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Bild: Ausschnitt einer Illustration aus British Fresh Water Fishes von 1879 – Quelle.

Literatur: Tchernyschweski, Nikolai Gawrilowitsch: Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen. Aus dem Russischen übersetzt von M. Hellmann und Hermann Gleistein. Reinbek bei Hamburg 1988.


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