Kirschfrucht
Geschriebenes
Jedes Jahr verwandelt sich Japan Ende März für eine kurze Zeit in eine Märchenwelt. Ganze Parks, Alleen, Wälder und Flussufer blühen schneeweiss bis zartrosa auf – es ist Kirschblütenzeit.
Und wenn die zarten Blütenblätter fallen, wird der nächste, sich jährlich wiederholende Prozess in Gang gesetzt. Die befruchteten Zygoten entwickeln sich zu Keimlingen und bilden die purpur-schwarzen, glänzenden Kugeln aus, die wird als Kirschen kennen.
Die Fruchtbildung kostet den Baum unglaublich viel Energie. Und dabei wächst ein neuer Kirschbaum nicht aus dem saftig-süssen Fruchtfleisch, sondern nur aus dem Kirschsamen. Wenn es dem Baum nur um seine Reproduktion geht, weshalb investiert er dann all die Zeit und Mühe in die Ausbildung der zuckerhaltigen Früchte und produziert nicht nur die Samen?
Vögel fressen die Samen, fliegen davon und lassen die Kirschkerne irgendwo wieder fallen. Wo die Samen auf fruchtbaren Boden treffen, dort wächst mit viel Glück ein neuer Kirschbaum. Nur fressen die Vögel nicht wirklich die Samen. Sie fressen die süssen Kirschen.
Genauso funktioniert es auch mit Ideen. Ideen sind die Samen, die Neues entstehen lassen. Nur interessiert sich leider niemand für die Ideen. Natürlich wäre es toll, die Ideen, so wie sie sind, in die Menge werfen zu können. Natürlich wäre es praktisch, wenn eine Einsicht überall Wurzeln schlägt, wo sie mit etwas anderem in Berührung kommt. Doch so ist es nicht
Auch rund um eine Idee muss eine Frucht gebildet werden. In Form einer Geschichte, eines Bildes, einer Handlung. Verpackt als Artikel, als Buch, als Produkt, als Unternehmen.
Es ist nicht die Idee an sich, die viel Arbeit benötigt. Es muss in die Fruchtbildung um die Idee herum investiert werden. Nur so wird die Frucht gegessen, verdaut und die Idee weitergetragen.
Bild: Goten-Yama Hügel, Shinagawa auf dem Tokaido von Katsushika Hokusai (1760-1849)
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