Kafkas Irrgang der Gefühle | Literaturbrocken #10
Geschriebenes
«[…] je länger er hinsah, desto weniger erkannte er», lässt Franz Kafka seinen Protagonisten in Das Schloss von 1926 erfahren. Sein stetes Suchen resultiert in zunehmender Verirrung und mit jedem Versuch einer Annäherung wird größere Distanz spürbar. Es scheint bei Kafka nicht überraschend, dass mit dem ‘Schloß’ das übergeordnete Ziel unerreichbar bleibt. Dass aber selbst bei körperlicher Nähe das Gegenüber außerhalb der Reichweite bleibt, lässt sich beim Lesen kaum aushalten. Strecken wir unsere Hand danach aus:
Sie umfaßten einander, der kleine Körper brannte in K.s Händen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, aus der sich K. fortwährend, aber vergeblich, zu retten suchte, ein paar Schritte weit […] und lagen dann in den kleinen Pfützen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden, Stunden gemeinsamen Atems, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, einer Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren.
[…]
Dort lagen sie, aber nicht so hingegeben wie damals in der Nacht. Sie suchte etwas, und er suchte etwas, wütend, Grimassen schneidend, sich mit dem Kopf einbohrend in der Brust des anderen, suchten sie, und ihre Umarmungen und ihre sich aufwerfenden Körper machten sie nicht vergessen, sondern erinnerten sie an die Pflicht, zu suchen; wie Hunde verzweifelt im Boden scharren, so scharrten sie an ihren Körpern; und hilflos, enttäuscht, um noch letztes Glück zu holen, fuhren manchmal ihre Zungen breit über des anderen Gesicht. (S. 49-53)
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Literatur: Kafka, Franz: Das Schloß. Urheberrechtsfreie Kindle-Ausgabe. Nach der Ausgabe von 1926.