Kann das Bewusstsein ohne Unbewusstsein erklärt werden? Ein Philosophiebrocken nach Wilhelm Wundt

Geschriebenes

Der deutsche Psychologe und Philosoph Wilhelm Wundt eröffnet seine 16. Vorlesung über die Menschen- und Thierseele von 1863 mit der Frage: «Was ist Bewusstsein?» (S.252). Anders als viele Vorgänger wählt Wundt jedoch eine konträre Herangehensweise, um eine Antwort zu formulieren: Er versucht nicht, das Bewusstsein als Zustand der menschlichen Psyche zu beschreiben und dieses einem «unbewusste[n] seelische[n] Sein» (S. 252) gegenüberzustellen. Nach Wundts Theorie brauche es nämlich das Unbewusste überhaupt nicht, um die psychischen Vorgänge vollständig zu erklären.

Das Problem mit der traditionellen Theorie

Klassischerweise wird angenommen, dass bewusste «Vorstellungen und Gemüthsbewegungen» (S. 252) ins Unbewusste verschwinden und daraus wieder ins Bewusstsein treten können. Diese Möglichkeit einer mehrfachen Bewusstwerdung impliziert, dass es sich bei den psychischen Erscheinungen um fortdauernde Dinge handelt.

Wundts Theorie basiert hingegen auf der Prämisse, dass «Vorstellungen und alle anderen psychischen Erlebnisse, Vorgänge, Ereignisse, nicht Gegenstände» sind (S. 253). Die Annahme, dass es sich bei dem, was einem bewusst ist, um Gegenstände handelt, sei – so meint Wundt – irreführend. Dies illustriert er an der tradierten Analogie der menschlichen Psyche als Schaubühne (Vgl. S. 252).

Das Bewusstsein als Schaubühne

Die Analogie lautet wie folgt: Auf der Schaubühne würden Schauspieler*innen (Vorstellungen) auftreten und nach einer Weile hinter den Kulissen verschwinden. Wenn sich aber die Darsteller*innen aus dem Sichtfeld des Publikums (dem Bewusstsein) wegbewegen (ins Unbewusste), so könne man annehmen, dass diese in einer nächsten Szene wieder auf der Bühne erscheinen. Was man auf der Schaubühne nicht sieht, sei somit nicht weg, sondern bloß zu diesem Zeitpunkt unsichtbar (bzw. unbewusst).

March Hare’s Garden (1915) Bühnenbild-Design für “Alice in Wonderland” von William Penhallow Henderson – Quelle.

Der Vergleich des Bewusstseins mit einer Schaubühne sei nach Wundt aber grundlegend falsch (Vgl. S. 253). Anders als eine Bühne bleibe das Bewusstsein nicht bestehen, wenn die Schauspieler*innen bzw. die Vorstellungen verschwinden. Ebenfalls könne man nicht wissen, ob Vorstellungen – gleich wie Darsteller*innen – weiter existieren, wenn sie die Bühne bzw. das Bewusstsein verlassen: «Wenn eine Vorstellung aus dem Bewusstsein verschwunden ist, so wissen wir überhaupt nichts mehr von ihr.» (S. 253) Gemäß Wundt gibt es so etwas wie eine unbespielte Bühne bzw. ein leeres Bewusstsein nicht.

Das Bewusstsein ist gegenwärtig

Das Bewusstsein sei nur dann vorhanden, wenn sich zu einem bestimmten Zeitpunkt psychische Vorgänge ereignen und diese wahrgenommen werden. Es sei eine Fehlannahme, wenn man davon ausgehe, dass es sich beim Bewusstsein um eine zusätzliche Existenz neben weiteren psychologischen Vorgängen handelt:

Das Bewusstsein ist kein geistiger Vorgang neben andern, sondern besteht lediglich in der Thatsache, dass wir innere Erfahrungen machen, Vorstellungen […] in uns wahrnehmen. Alle diese Vorgänge sind uns bewusst, insofern wir sie haben; sie sind uns nicht bewusst, wenn wir sie nicht haben. (S. 255)

Nach Wundt ist es rein hypothetisch, zu sagen, dass es Vorstellungen gibt, die einem nicht bewusst. Ja, man habe überhaupt keinen Grund zur Annahme, dass psychische Vorgänge weiter bestehen, wenn sie das Bewusstsein verlassen.

Weil es sich bei den Vorstellungen um gegenwärtige Ereignisse handelt, muss keine fortdauernde Existenz derselben angenommen werden. Wenn eine Vorstellung nicht bewusst ist, dann hat man sie nach Wundt nicht, dann ist sie weg. Es ist nach Wundt also völlig irrelevant, zu spekulieren, was hinter den Kulissen einer Schaubühne bzw. im Unbewusstsein passiert. Doch woher stammen die bewussten Vorstellungen, wenn sie laut Wundt nicht hinter dem Vorhang bzw. aus dem Unbewusstsein hervorkommen?

The Court of Hearts (1915) Bühnenbild-Design für “Alice in Wonderland” von William Penhallow Henderson – Quelle.

Der Ursprung der Bewusstseinsinhalte

Innere Vorgänge und Vorstellungen – das, was einem bewusst sein kann – werden nach der Theorie Wundts aus Empfindungen zusammengesetzt. Empfindungen sind die «nicht weiter in einfachere psychische Bestandtheile zerlegbaren Elemente der Vorstellungen [sic]» (S. 16), wie Wundt in der zweiten Vorlesung ausführt. Diese Empfindungen werden durch innere und äußere Reize verursacht (Vgl. S. 17).

Den Vorstellungen gehen also immer Reize voraus. Das Bewusstsein kann infolgedessen beschreiben werden als Reize, die mit einer bestimmten Qualität und Intensität (Vgl. S. 16) im Gehirn psychische Vorgänge auslösen. Wenn Vorstellungen mehrmals bewusst werden, heißt dies, dass sie jedes Mal durch neue Reize hervorgerufen werden. Die wiederholten Vorstellungen sind somit nie identisch, sondern können sich nur in ihrem Erscheinen ähneln, weil sie durch Reize mit ähnlicher Qualität und Intensität einen vergleichbaren Vorgang im Gehirn auslösen (Vgl. S. 253).

Weil dem Menschen Vorstellungen nur in ihrem Gegebensein bewusst werden können, braucht es so etwas wie ein unbewusstes Empfinden überhaupt nicht. Denn was man empfindet, ist einem qua Empfindung bewusst. Ist eine Empfindung nicht bewusst, dann ist das der Fall, weil kein Reiz diese Empfindung ausgelöst hat. Etwas, das einem nicht mehr bewusst ist, braucht auch nicht unbewusst fortzudauern, es existiert nicht mehr: «[…] das einzige was einem Verschwinden aus [dem Bewusstsein] entspricht, [ist,] dass etwas nicht mehr geschieht, was vorher geschah […]» (S. 255).

Hall with Doors (1915) Bühnenbild-Design für “Alice in Wonderland” von William Penhallow Henderson – Quelle.

Bewusstsein ist ein begriffliches Werkzeug

Das Bewusstsein ist nach Wundt ein «Gesamtausdruck» (S. 255), eine Klammer, die einen Zusammenhang zwischen dem herstellt, was sich gleichzeitig bewusst ereignet. Das Bewusstsein ist also ein begriffliches Werkzeug, um auf die Gesamtheit der gegebenen psychischen Vorgänge hinzuweisen, ohne selbst etwas Zusätzliches zu sein. Es macht nach Wundt deshalb keinen Sinn, ontologisch zwischen Bewusstsein und Vorstellungen zu unterscheiden.

Das Unbewusste würde analog dasjenige bezeichnen, was sich zu einem gegebenen Zeitpunkt unbewusst ereignet. Gemäß Wundt sind einem Vorstellungen jedoch immer bewusst, wenn man sie hat bzw. nicht bewusst, wenn man sie nicht hat. Da unbewusstes Empfinden in der Theorie Wundts nicht vorkommt und Vorstellungen jedes Mal durch innere oder äußere Reize neu erzeugt werden, würde das Unbewusste nur eine leere Menge bezeichnen und wäre somit überflüssig.

Weil sich das Bewusstsein und alle psychischen Vorgänge nach Wundts Theorie ohne die zusätzliche Annahme eines Unbewusstseins widerspruchsfrei erklären lassen, kann sie nach dem Sparsamkeitsprinzip schlicht außen vor gelassen werden.


Literatur: Wundt, Wilhelm: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. 2. Auflage. Hamburg und Leipzig 1892.

Titelbild: Garden of Flowers (1915) Bühnenbild-Design für “Alice in Wonderland” von William Penhallow Henderson – Quelle.


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