Musils Möglichkeitssinn | Literaturbrocken #16

Geschriebenes

“Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will”, schreibt Robert Musil in seinem unvollendeten Opus magnum Der Mann ohne Eigenschaften, “muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz […] ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns.” Will man sich im Alltag nicht ständig den Kopf stoßen, braucht es nach Musil ein feines Gespür für die Realität; ein Bewusstsein dafür, was ist und was nicht.

Jedoch sei diese praktisch-pragmatische Lebensweise bei Weitem nicht ausreichend. Die Umstände zwingen uns dazu, in den Worten Alexander Kluges “im Konjunktiv [zu] denken”, Perspektiven zu erkunden und Alternativen zu imaginieren. Hier tritt der schöpferische Gegenpart des “Wirklichkeitssinns” in Kraft:

“Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, […] dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.” (S. 19-20)

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Literatur: Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Köln 2013.

Zur Vertiefung: Nübel, Birgit: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin/News York 2006.

Bild: Illustration aus L’atmosphère météorologie populaire (1888) von Camille Flammarion, via Wikimedia Commons – Quelle.


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