Über «Knöchel» und weitere Verkleidungen

Geschriebenes

Letzten Sonntag klingelte ein kleines Skelett an der Haustür. Bevor ich dem verkleideten Kindergärtner von nebenan seine verdienten Süssigkeiten in den Halloween-Turnsack steckte, fragte ich ihn schmunzelnd, als was er sich da Gefährliches verkleidet habe. Ganz stolz schaute er mich an und sagte hinter der Stoffmaske hervor: «Ein Knöchel!»

Erst als die Tür bereits wieder ins Schloss gefallen war, wurde mir bewusst, worauf der Kleine hinauswollte: Das Deminutivum von Knochen, mit dem wir die Vorsprünge an Fuß- und Fingergelenken bezeichnen, stammt von der mittelhochdeutschen Bezeichnung knöchel, knüchel aus dem 15. Jahrhundert. Das daraus abgeleitete Adjektiv knöchern 18. Jh. ‘aus Knochen bestehen’ steht dabei in enger Verwandtschaft mit der veralteten Bezeichnung für den Tod als Knochenmann, den man sich – wie naheliegend! – personifiziert als Skelett vorzustellen hat.

Der Bub hat folglich neben seiner durchschnittlichen Verkleidung, die retrospektiv als Ablenkung interpretiert werden darf, primär sein etymologisches Fachwissen als infantile Naivität maskiert, um mich in meiner Banausenhaftigket zu entlarven und bis auf die Knochen bloßzustellen. Schlicht genial.


Bild: Ausschnitt aus In the Maze of Branches the Pale Figure Appeared (1887) von Odilon Redon – Quelle.


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