Zeit besitzen oder verlieren? – Über die Beziehung zwischen Mensch und Zeit in Senecas «Briefe an Lucilius»

Geschriebenes

Ist die Zeit eine objektive oder subjektive Grösse? Verläuft Zeit linear, kreisförmig oder unregelmässig? Gibt es einen Unterschied zwischen Zeit und Zeitempfinden? Wie soll Zeit gemessen werden? Hat der Mensch einen Einfluss auf das Zeitgeschehen?

Fragen rund um das Phänomen der Zeit lassen sich tausende von Jahren zurückverfolgen. Während die Philosophen der Antike mit einer mythologischen Terminologie hantierten, hat sich die Zeit inzwischen zu einem interdisziplinären, multidimensionalen und immer abstrakter werdenden Paradigma ausgeweitet. Die immense Breite an Zugängen und unterschiedlichen Theorien schrecken ab. Es stellt sich die Frage, ob es sich für mich/dich/uns überhaupt noch lohnt, sich mit der Zeit auseinanderzusetzen oder ob die Beschäftigung nicht lieber den Experten überlassen werden sollte.

Für den römischen Philosophen Lucius Annaeus Seneca († 65 n. Chr.) war der Umgang mit der Zeit eine fundamentales philosophisches und pädagogisches Thema mit starkem Lebensbezug. «Handle so, mein Lucilius», schreibt Seneca im ersten Satz der Briefe an Lucilius. «Befreie Dich für Dich selbst und sammle und bewahre die Zeit, die Dir bisher entweder geraubt oder heimlich entwendet wurde oder entschlüpfte.» (EM, 5) Nicht nur beiläufig, sondern explizit und an erster Stelle der Briefsammlung fordert Seneca seinen Freund Lucilius auf, sich mit der Zeit auseinanderzusetzen.

Mit «Zeit» meinen wir im Alltag in der Regel die lineare, kontinuierliche und unumkehrbare Abfolge von Ereignissen. Zeit wird in Form von Sekunden, Minuten und Stunden messbar gemacht, unabhängig davon, ob sie bereits vergangen ist, im Moment erlebt oder zukünftig erfolgen wird. Der Sekundenzeiger tickt mit gleicher Geschwindigkeit, egal ob die Zeit im Schlaf oder beim Sport verbracht wird.

Das subjektive Zeitempfinden kann variieren: Zeit kann gefühlt verfliegen oder sich ins Unendliche ausdehnen. Der Verlauf der Zeit ist dabei aber unabhängig von der Wahrnehmung. Im Alltag ist die Zeit im Grunde eine intersubjektive Orientierungshilfe, die das menschliche Zusammenleben ordnet und vereinfacht.

Verben wie «sammeln», «bewahren» oder «rauben» scheinen sich also nicht mit diesem physikalischen Zeitverständnis zu vertragen. Was Seneca hier als «Zeit» beschreibt ist keine unveränderliche, abstrakte Grösse, sondern etwas, das dem Menschen gehören oder entwendet werden kann. Seneca geht sogar noch einen Schritt weiter und schreibt: «Alles, Lucilius, gehört den anderen, nur die Zeit ist unser.» (EM, 5) Nicht bloss beinflussen kann der Mensch nach Seneca die Zeit, nein, sie ist gar das Einzige, was ihm wirklich gehören kann.

Der Zeitbegriff in Senecas erstem Brief an Lucilius

«Überzeuge Dich, dass es so ist, wie ich schreibe: manche Augenblicke werden uns entrissen, manche entzogen, manche verrinnen. Der beschämendste Verlust jedoch ist der, der durch Nachlässigkeit verursacht wird. Und wenn Du aufmerksam sein willst: ein grosser Teil des Lebens entgleitet den Menschen, wenn sie Schlechtes tun, der grösste, wenn sie nichts tun, das ganze Leben, wenn sie Nebensächliches tun.» (EM, 5)

Im ersten Paragraphen beschreibt Seneca die Zeit als eine Aneinanderreihung von «Augenblicken», die dem Menschen abhandenkommen oder ihm zu eigen gemacht werden.

In der griechischen Mythologie gab es zwei unterschiedliche Begriffe für die Zeit: Chronos (griech. Χρόνος) und Kairos (griech. Καιρός). Chronos bezeichnet den kontinuierlichen und unveränderlichen Fortlauf der Zeit, während Kairos als Gott der günstigen Gelegenheit in der griechischen Mythologie die Zeit als Möglichkeit in der Gegenwart repräsentiert.

Während das physikalische Zeitverständnis sich mit dem griechischen Begriff Chronos beschreiben lässt, ist das, was Seneca im ersten Paragraphen als «Zeit» bezeichnet eher mit Kairos kompatibel: Es handelt sich um eine Aneinanderreihung von «Augenblicken», die dem Menschen abhandenkommen oder ihm zu eigen gemacht werden.

Zeitverlust geschieht, wie Seneca schreibt, nicht nur durch das Einwirken von externen Kräften, wie die Verben «entr[ei]ssen» und «entziehen» suggerieren, sondern auch – was besonders beschämend sei – durch eine selbstverantwortete «Nachlässigkeit».

Während Zeit gesammelt und bewahrt werden kann, so kann sie eben auch verloren gehen oder – in der Sprache von Kairos – als ungenutzte Gelegenheit verstreichen. Das Handeln oder Nicht-Handeln spielt also in Zusammenhang mit der Zeit nach Seneca eine wichtige Rolle.

«Nachlässigkeit» darf in diesem Kontext aber nicht nur als Trägheit oder Passivität verstanden werden, wie der nächste Satz erläutert. Neben dem «[N]ichts tun» führt nämlich auch Falsches bzw. «Schlechtes» oder «Nebensächliches» zu Zeitverlust.

Nicht allein ist also entscheidend, dass etwas getan wird, sondern auch was und wie etwas getan wird. Bevor man sich aber der Art und Weise des Handelns widmet, muss geklärt werden, wann überhaupt Handlung stattfinden kann.

Die Dreiteiligkeit der Zeit

Im ersten Brief sind drei Formen der Zeit erkennbar. Zum einen ist das die die Vergangenheit, das heisst der «Lebensabschnitt, der hinter uns liegt». (EM, 5) Zum anderen die Gegenwart, auf die unterschiedlich als «Tag», «Stunden» oder «Augenblicke» verwiesen wird. (EM, 5) Ausserdem gibt es die Zukunft, was mit dem «morgigen Tag» gemeint ist. (EM, 5) Etwas prägnanter formuliert findet sich die Definition der Dreiteiligkeit der Zeit in Senecas Von der Kürze des Lebens:

«In drei Zeiten teilt sich das Leben: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Von ihnen ist die, in der wir stehen, kurz, die, welche uns bevorsteht, zweifelhaft, die, die wir hinter uns haben, gewiss […] » (BV, 85)

Die Vergangenheit ist bei Seneca die Zeit, «auf welche das Schicksal sein Anrecht verloren hat und die keines Menschen Wille rückgängig machen kann.» (BV, 85) Die Vergangenheit, so erklärt Seneca im ersten Brief an Lucilius, «hat der Tod in seiner Gewalt». (EM, 5) Was auch immer der Mensch versucht, um das Geschehene zu drehen und zu wenden, die Vergangenheit bleibt unverändert. Das Tot-sein symbolisiert die Abgeschlossenheit dieser Zeitform.

Spannend ist festzuhalten, dass Seneca der Vergangenheit keine zeitliche Ausdehnung zuspricht. Aus der Perspektive der Gegenwart ist die Vergangenheit auf einer fiktiven Zeitachse punktförmig. «Mit einem Blick überschaut man sie;» schreibt Seneca in Brief 49, «dicht zusammengedrängt liegt sie da». (EM, 154) Diese Tatsache bewertet Seneca aber keinesfalls negativ. Denn als fait accompli ermöglicht die Vergangenheit mit Hilfe der Erinnerung erfreuliche Ereignisse und Lebensabschnitte immer und immer wieder aufleben zu lassen. Voraussetzung dafür ist – wie das fait impliziert –, in eine gute Vergangenheit zu investieren.

Die Gegenwart wird bei Seneca als das Hier und Jetzt, die Zeitform, in der gelebt wird, bezeichnet. Die Gegenwart ist das Element, das der Mensch entweder besitzen und sammeln oder verlieren kann. Die Gegenwart beschreibt den momentanen Augenblick, der ständig vom nächsten abgelöst wird:

«Die Gegenwart ist nur ganz kurz, so kurz, dass sie manchen wie ein Nichts erscheint; sie eilt immer weiter, fliesst dahin und kommt nicht zur Ruhe» (BV, 86)

Sobald der flüchtige Augenblick vorüber ist, hat der Mensch den Anspruch darauf verloren und er gehört bereits der unveränderlichen Vergangenheit an. Deshalb nennt Seneca die Zeit das Einzige, was «nicht einmal ein Dankbarer zurückerstatten kann.» (EM, 5)

Als Zukunft beschreibt Seneca den Zeitabschnitt, der vor uns liegt. Die Zukunft gehöre dem «Zufall». Sie ist ungewiss, zweifelhaft und überraschend. «Keiner darf sich etwas auf die Zukunft ver- sprechen», schreibt Seneca im 101. Brief. (EM, 513) Denn alles, was auf den Menschen zukommt oder zukommen mag, kann nicht vorausgesagt werden.

Senecas Zeitverständnis als Präsentismus

Im sechsten Paragraphen des 12. Briefes skizziert Seneca das Leben als unterschiedlich grosse konzentrische Kreise. Der Kreis mit dem grössten Radius, der alle anderen umringt, repräsentiert die gesamte Zeitspanne «vom Geburts- bis zum Todestag». (EM, 35) Ein kleinerer umfasst die Jugendzeit, ein weiterer die Jahre als Kind. So werden die Kreise immer kleiner. Vom Kreis, der ein Jahr repräsentiert, zum Monats-Kreis. Und schliesslich zum Kreis mit dem kleinsten Radius, der den Tag repräsentiert und im Mittelpunkt der Form steht.

Was diese Veranschaulichung wunderbar darstellt, ist, dass es unterschiedlich grosse Kreise gibt, die verschiedene Zeitabschnitte umfassen. In deren aller Mitte steht aber unveränderlich der Tag: Der Zeitabschnitt, aus dessen Vervielfältigung sich jeder weitere Kreis zusammensetzt. Egal ob man dieses Modell der konzentrischen Kreise also auf das lange Leben einer Greisin oder auf das, eines Kleinkindes anwendet, das Prinzip bleibt das Gleiche: Jeder Tag ist eine weitere Stufe des Lebens und die Summe aller Tage ist das Leben. (Vgl. EM, 35) Das Leben ist in diesem Sinne nichts anderes als der Tag selbst – immer und immer wieder.

«In der Zukunft wartet der Tod auf den Menschen», schreiben Jürgen Blänsdorf und Eberhard Breckel, «und die Vergangenheit ist schon im Besitz des Todes.» (PDX, 22) Die Gegenwart ist die einzige Zeitform, die in der Verantwortung des Menschen steht und er eine aktive Rolle übernehmen kann. Ein Problem stellt sich dabei: die Gegenwart ist kurz und flüchtig. Die Gegenwart ist ein fliessendes Abwechseln von Momenten, die nie an einer Stelle zum Stillstand kommen. Wie soll also der Mensch sich diese kurzen Augenblicke zu eigen machen? Senecas Antwort darauf findet sich in Brief 22. Er schreibt: «Eine flüchtige Gelegenheit wahrzunehmen, setzt nicht nur Anwesenheit, sondern auch Wachsamkeit voraus […] » (EM, 74)

Insofern kann bei Senecas Zeitverständnis von einem Präsentismus gesprochen werden. Einerseits auf philosophischer Ebene, weil sich nur im Präsens, d.h. in der Gegenwart, das Leben abspielt. Anderseits handelt es sich auch um einen Präsentismus aus psychologischer Sicht, weil das Handeln im Augenblick Präsenz, d.h. Anwesenheit und Aufmerksamkeit, voraussetzt.

Der Einfluss des Menschen auf die Zeit

«Ein Augenblick ist es, den wir leben,» schreibt Seneca in Brief 49, «und kürzer noch als ein Augenblick.» (EM, 154-155) Während der Augenblick in der Gegenwart unauffällig vorbeihuscht, fällt die Unaufhaltsamkeit und «Eile der Zeit» oft erst rückblickend auf. (EM, 154) Und weil der physikalische Augenblick per Definition nicht fassbar ist, muss er durch Präsenz im Augenblick sinnlich wahrnehmbar gemacht werden. (Vgl. PDX, 22)

Aus dieser Tatsache folgt, dass «der Wert des Lebens nicht auf seiner Dauer, sondern auf seiner Nutzung beruht […]». (EM, 157) Es kommt nicht darauf an, wie lange man tatsächlich lebt, denn Zeit allein macht das Leben nicht gelungen. Das Wichtigste ist, mit seiner begrenzten Zeit – wie lange sie auch sein mag – richtig umzugehen. Erst die Fähigkeit den gegenwärtigen Augenblick wahrzunehmen und damit auszudehnen, macht eine zeitliche Einheit zu einer Handlungsmöglichkeit. Während der Mensch keinen Einfluss auf seine Lebensdauer hat, kann er aber sehr wohl bestimmen, was er mit dem gegenwärtigen Augenblick anfängt.

Voraussetzungen für den richtigen Umgang mit der Zeit

«Das Leben eines jeden ist der Zukunft zugewandt,» schreibt Seneca in Brief 45. (EM, 143) Während die Zukunft per se nichts Schlechtes an sich hat, geht bei der Beschäftigung mit dem zukünftigen, unsicheren Geschehen der gegenwärtige Augenblick verloren. Das Aufschieben ist deshalb für Seneca die grösste Sünde im Umgang mit der Zeit. Seneca schreibt in Von der Kürze des Lebens:

«Der grösste Verlust für das Leben ist die Verzögerung: Sie entzieht uns immer gleich den ersten Tag, sie raubt uns die Gegenwart, während sie Fernliegendes in Aussicht stellt. Das grösste Hemmnis des Lebens ist die Erwartung, die sich an das Morgen hängt und das Heute verloren gibt. Was in der Hand des Schicksals liegt, darüber verfügst du; was in der deinen liegt, das läßt du fahren.» (BV, 83)

Die Zeit mag nach festgelegtem Gesetz ihren Lauf nehmen. Für das Individuum sei diese Tatsache aber irrelevant. Denn der Mensch kann sich nicht einmal sicher sein, dass er nach dem Einschlafen wieder aufwacht, so erklärt Seneca. (Vgl. EM, 513) Dass das Leben irgendwann aufhört, das sei die «unerbittliche Notwendigkeit des Schicksals». (EM, 514) Wie weit aber der Mensch von diesem Ende entfernt sei, das wisse niemand. Und genau weil der Mensch nicht wissen könne, so folgert Seneca, soll er jeden gegenwärtigen Augenblick nutzen: «Nicht überall zeigt sich der Tod so nahe, überall ist er so nahe.» (EM, 157) Der richtige Umgang mit der Zeit geht für Seneca also immer mit dem Bewusstsein über die Endlichkeit des Lebens einher.

Um ein selbstbestimmtes Leben in der Gegenwart führen zu können, muss der Mensch mit der Unsicherheit, wann er sterben wird, zurechtkommen. Deshalb fordert Seneca seinen Freund Lucilius auf, den «Geist so zu unterweisen, als ob wir bis ans letzte Ziel gelangt wären.» (EM, 514) Man soll nichts aufschieben und jeden Tag mit dem Leben Bilanz ziehen. «Wer täglich die letzte Hand an sein Leben angelegt hat, der hat nicht Mangel an Zeit,» schreibt Seneca in Brief 101. (EM, 514) Denn erst aus einem Mangel heraus entstehe das Bedürfnis, die Zukunft für sich einzunehmen, den Tod und die Unsicherheit zu fürchten. Gelinge es aber, eine Genügsamkeit mit der Gegenwart zu entwickeln, so wird der Mensch weniger abhängig von der Zukunft:

«Handle daher, mein Lucilius, so, wie du schreibst, halte alle Stunden fest; so wird es geschehen, dass Du weniger vom morgigen Tag abhängig bist, wenn Du den heutigen in die Hand nimmst.» (EM, 5)

Im vierten Paragraphen des ersten Briefes gesteht Seneca, dass es ihm selbst nicht gelingt, keine Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Er sei sich aber bewusst, dass die Zeit vorübergeht und kann die Gründe für den Zeitverlust angeben. (Vgl. EM, 6) Diese Reflexion seiner eigenen Unfähigkeit vermittelt einem das Gefühl, dass nicht Perfektion in der Umsetzung das kurzfristige Ziel der Auseinandersetzung mit der Zeit ist. Es geht vielmehr darum, ein Bewusstsein über die Kostbarkeit der Zeit zu entwickeln.

«Wir wollen darauf [hinarbeiten], dass die ganze Zeit unser Eigentum ist», schreibt Seneca in Brief 71. (EM, 262) Der rechte Umgang mit der Zeit wird als Lernprozess beschrieben, von dem auch Seneca selbst nicht ausgeschlossen ist (wie das «wir» zeigt). «Sie wird es aber nicht sein,» fährt Seneca fort, «wenn wir nicht zuvor begonnen haben, uns selbst zu gehören.» (EM, 262) Neben dem Präsentismus wird hier also noch eine Art der Selbstaneignung vorausgesetzt.

«Befreie Dich für Dich selbst und sammle und bewahre die Zeit,» heisst es zu Beginn des ersten Briefes. (EM, 5) Senecas Aufforderung spielt mit einem Paradoxon. Einerseits impliziert «Befreie Dich», dass Lucilius in einer Art Gefangenschaft lebt. Andererseits enthält die Aufforderung, dass Lucilius die Mittel zur Befreiung in seiner Hand hat. Er ist somit gleichzeitig der Gefangene und der mögliche Befreier seiner selbst. Ausserdem sei es auch Lucilius selbst, der den Nutzen aus der Selbstbefreiung zieht, weil er sich für niemand anderen als «für [sich] selbst» befreit.

Zusammengefasst ist zu sagen: Damit die Zeit dem Menschen gehören kann, muss der Mensch sich selbst gehören. Und damit der Mensch sich selbst gehören kann, muss er sich aus der Gefangenschaft seiner selbst befreien. Doch was meint Seneca damit, sich selbst zu besitzen?

«Willst Du den Grund wissen, der die Menschen auf die Zukunft versessen macht?» schreibt Seneca in Brief 32. «Niemand gehört sich selbst.» Wie besprochen, löst für Seneca erst die fehlende Genügsamkeit mit der Gegenwart eine Versessenheit auf die Zukunft aus. Zum einen kann sich selbst zu gehören also als die Fähigkeit angesehen werden, mit der Gegenwart zufrieden zu sein. Zum anderen hat Selbstbesitz bei Seneca auch mit der Qualität der Handlung zu tun. Seneca ärgert sich darüber, dass Menschen mit ihrer begrenzten Zeit verschwenderisch umgehen und «einen Großteil für Überflüssiges vergeuden.» (EM, 155)

Auch wenn für Seneca gewisse Handlungen definitiv besser als andere sind, so ist er sich bewusst, dass der Mensch je nach gesellschaftlicher Stellung eine unterschiedliche Handlungsfreiheit besitzt. Es ist nicht jeder zu jeder Zeit in der Lage zu bestimmen, was er tun möchte. Aber egal ob Staatsmann oder Sklave, egal ob frei oder unfrei, jeder kann Herr über seine Einstellung gegenüber seinen Handlungen sein. Er schreibt in Brief 61:

«Gib Dir Mühe, niemals etwas gegen Deinen Willen zu tun: alles, was für den Widerstrebenden notwen- dig sein wird, ist für den, der will, keine Notwendigkeit. Ich behaupte folgendes: Wer Befehle bereitwillig annimmt, entkommt dem bittersten Teil der Knechtschaft, nämlich zu tun, was er nicht will; nicht wer auf Befehl etwas tut, ist unglücklich, sondern wer es gegen seinen Willen tut.» (EM, 203)

Im Umgang mit der Zeit, wie auch in anderen Bereichen von Senecas Philosophie, ist die Selbstbestimmung das zentrale Element: zu wissen, dass man tut und zu wollen, was man tut. Es liegt in der Eigenverantwortung des Menschen, sich zu besitzen und die Zeit aktiv zu gestalten.

Der Stellenwert der «Zeit» nach Seneca

Für Seneca steht der Mensch im Kreuzfeuer unterschiedlichster Einflüsse. Dies können externe, sprich soziale oder gesellschaftliche, oder aber interne, sprich psychologische Kräfte, sein. Der Mensch hat die Aufgabe, diese Einflüsse (Input) zu verarbeiten und in Handlung zu übersetzen (Output). Oft geschieht dieser Prozess unbewusst. In Bezug auf die Zeit, möchte Seneca aufzeigen, dass ein Bewusstsein über die Kostbarkeit und Flüchtigkeit der Zeit entwickelt werden kann. Das Ziel dieses Bewusstseins ist es, die Zeit nutzen zu lernen, um sich nicht am Ende des Lebens vorwerfen zu müssen, zu viel Zeit verschwendet und zu wenig gelebt zu haben.

Der rechte Umgang mit der Zeit ist damit primär eine Aufgabe der Vernunft. Zu realisieren, dass das Leben im gegenwärtigen Moment stattfindet, in der Gegenwart präsent zu sein und die Gelegenheit im Augen- blick zu erkennen – dies sind alles Aufgaben der Vernunft. Die Vernunft macht damit den physikalischen Moment zu einer Möglichkeit für selbstbestimmtes Handeln. Und was mit dieser Möglichkeit tatsächlich angestellt wird, speilt eine sekundäre Rolle.

Das idealistische Vorhaben, sich «die ganze Zeit» zu eigen zu machen und keinen Augenblick ungenutzt verstreichen zu lassen, relativiert Seneca aber sofort wieder – er selbst sei im Umgang mit der Zeit nicht perfekt. Seneca möchte nicht anklagen, sondern aufmerksam machen, dass es sich selbst dann noch lohne, sich mit der Zeit auseinanderzusetzen, wenn nicht mehr viel am Boden des Fasses übrig sei. (Vgl. EM, 6) Je früher, desto besser. Das wird bei der Lektüre offensichtlich. Aber auch wenn einem nicht mehr viel Zeit bleibt – und man weiss ja schliesslich nie wirklich, wie viel einem wirklich noch bleibt – ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um damit zu beginnen.


Anmerkungen:

Grundlage dieses Artikels ist eine schriftliche Arbeit, die ich im Rahmen eines Moduls zu Seneca an der Universität Zürich geschrieben habe. Wie modern Senecas Zeitverständnis auch knapp 2’000 Jahre nach seinem Tod noch wirkt, und wie viele moderne Denkarten man in diesem antiken Text wiederkennt, ist bewundernswert. Anstatt die Arbeit in den Archiven verstauben zu lassen, teile ich meine Untersuchung auf dieser Plattform. Und hoffe, dass ausser mir vielleicht sonst noch jemand den einen oder anderen Denkanstoss mitnehmen kann…

Zur besseren Lesbarkeit habe ich den Originaltext umstrukturiert, gekürt und wo möglich seiner «Wissenschaftlichkeit» entledigt. (Eigentlich schade, dass dies überhaupt notwendig war.)

Bei den wunderbaren Illustrationen handelt es sich um fotomechanische Drücke des japanischen Künstler und Fotografen Ogawa Kazumasa (1860–1929). (Quelle)

Bibliographie:

EM: Seneca, Lucius Annaeus: Briefe an Lucilius. Übersetzt von Heinz Gunermann, Franz Loretto und Rainer Rauthe. Herausgegeben und kommentiert von Marion Giebel. Stuttgart 2014.

BV: Seneca, Lucius Annaeus: Vom glücklichen Leben / Von der Kürze des Lebens. Übersetzt und kommentiert von Otto Apelt. Hamburg 2015.

PDX: Blänsdorf, Jürgen und Breckel, Eberhard: Das Paradoxon der Zeit. Zeitbesitz und Zeitverlust in Senecas Epistulae Morales und De brevitate vitae. Freiburg/Würzburg 1983.



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