Im Dialog mit Seneca: Körperliches vs. geistiges Training

Geschriebenes

Es fühlt sich grossartig an, nach einem schweren Training die erschöpften Glieder ins Bett zu hieven und die Anstrengung in der weichen Matratze versinken zu lassen.

«Ich überlege mir, wie viele ihre körperlichen Begabungen trainieren, wie wenige ihre geistigen Fähigkeiten; […] wie schwächlich in geistiger Hinsicht die sind, deren Arme und Schultern wir bewundern.» (80, 2)

Zumindest gibt es da etwas zu bewundern. Zumindest kann man da etwas sehen, etwas anfassen. Es lässt sich Leistung messen, Fortschritte festhalten und Ziele erreichen. Wie aber fühlt sich geistige Erschöpfung an? Wie kann da Verbesserung gemessen werden? Und was will man damit überhaupt erreichen?

«Wenn der Körper durch Training zu solcher Ausdauer gebracht werden kann, dass er in gleicher Weise sowohl Faustschläge als auch Fusstritte nicht nur eines einzigen Menschen aushält, dass einer die sengendheiße Sonne im glühendheißen Staub erträgt und so, vom eigenen Blut überströmt, den Tag verbringt, wie viel leichter könnte der Geist trainiert werden, Schläge des Schicksals ungeschlagen aufzufangen, so dass er sich wieder erhebt, auch wenn er niedergeworfen, wenn er mit Füßen getreten ist.» (80, 3)

Ein bisschen dramatisch. Aber du hast wohl Recht. Das Ziel ist nicht bloss leistungsfähig, sondern in erster Linie widerstandsfähiger und resilienter zu werden. Der Geist hat sich in Krisensituationen zu behaupten, so wie der Körper unter Wettkampfbedingungen geprüft wird.

«Der Körper braucht nämlich vieles, um stark zu sein. […] Jene [Sportler] haben viel Speise, viel Trinken nötig, viel Salböl, schließlich lange Mühe.» (80, 3)

Das stimmt. Nur sind körperliches Training, Ernährung und Regeneration konkrete Dinge. Was aber ist ihr geistiges Pendant? Was braucht es für das geistige Training?

«Der Geist wächst aus sich heraus, er nährt sich selbst, er trainiert sich.» (80, 3)


Quelle: Seneca: Briefe an Lucilius. 80. Brief. Stuttgart 2014, S. 317.
Bild: Spiegelung aus Illustration von John L. Sullivan aus einer Beilage zur Police Gazette, vol. LXXII, no. 1078, Samstag 23. April 23, 1898 – Quelle.


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