Novalis und der Unterschied zwischen Geschichte und Geschichte | Literaturbrocken #6

Geschriebenes

Meist kommt es nicht nur darauf an was, sondern auch wie etwas erzählt wird. Damit Geschichte zur Geschichte wird, sollen nicht nur Ereignisse und Begebenheiten wiedergegeben, sondern Sinn komponiert und vermittelt werden. Denn Worte entfalten ihr Potential erst, wenn sie selektiert, geformt und geordnet sind. Und das – so der Graf Hohenzollern in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen – ist die Aufgabe der Dichtung:

«Es ist nur so schlimm,» sagte der Graf von Hohenzollern, «daß selbst die wenigen, die sich der Aufzeichnung der Taten und Vorfälle ihrer Zeit unterzogen, nicht über ihr Geschäft nachdachten, und ihren Beobachtungen keine Vollständigkeit und Ordnung zu geben suchten, son­dern nur aufs Geratewohl bei der Auswahl und Samm­lung ihrer Nachrichten verfuhren. Ein jeder wird leicht an sich bemerken, daß er nur dasjenige deutlich und vollkomen beschreiben kann, was er genau kennt, dessen Teile, dessen Entstehung und Folge, dessen Zweck und Gebrauch ihm gegenwärtig sind: denn sonst wird keine Beschreibung, sondern ein verwirrtes Gemisch von un­vollständigen Bemerkungen entstehn. Man lasse ein Kind eine Maschine, einen Landmann ein Schiff beschreiben, und gewiß wird kein Mensch aus ihren Worten einigen Nutzen und Unterricht schöpfen können, und so ist es mit den meisten Geschichtschreibern, die vielleicht fertig genug im Erzählen und bis zum Überdruß weitschweifig sind, aber doch gerade das Wissenswürdigste vergessen, dasjenige, was erst die Geschichte zur Geschichte macht, und die mancherlei Zufälle zu einem angenehmen und lehrreichen Ganzen verbindet. Wenn ich das alles recht bedenke, so scheint mir, als wenn ein Geschichtsschreiber notwendig auch ein Dichter sein müßte, denn nur die Dichter mögen sich auf jene Kunst, Begebenheiten schicklich zu verknüpfen, verstehn. In ihren Erzählungen und Fabeln habe ich mit stillem vergnügen ihr zartes Gefühl für den geheimnisvollen Geist des Lebens bemerkt. Es ist mehr Wahrheit in ihren Märchen, als in gelehrten Chroniken. Sind auch ihre Personen und deren Schicksale erfunden: so ist doch der Sinn, in dem sie erfunden sind, wahrhaft und natürlich. Es ist für unsern Genug und unsere Belehrung gewissermaßen einerlei, ob die Personen, in deren Schicksalen wir den unsrigen nachspüren, wirklich einmal lebten, oder nicht. Wir verlangen nach der Anschauung der großen einfachen Seele der Zeiterscheinungen, und finden wir diesen Wunsch gewährt, so kümmern wir uns nicht um die zufällige Existenz ihrer äußern Figuren.» (S. 83-85)

Etwas idealistisch. Etwas schillernd. Etwas kitschig. (Wie fast alles in Novalis’ Fragment.) Aber dadurch nicht weniger beachtenswert oder wirkungsmächtig.

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Buch: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Stuttgart 2011.
Bild: Kompozycja von Sophie Taeuber-Arp, 55x46cm, Öl auf Leinwand, 1931. (Quelle)


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