Die unterste Prämisse ersetzen
Geschriebenes
Fast jedes Argument baut auf einer grundlegenden Prämisse auf. Sie bildet das Fundament und die stützende Struktur des Gedankens. Stimmt man dem Argument nicht zu oder möchte es widerlegen, ist es am einfachsten, die unterste Prämisse anzugreifen. Sie funktioniert wie das zentralste Klötzchen bei Jenga – zieht man es heraus, so fällt der ganze Turm in sich zusammen.
Doch bevor man dem ganzen Konstrukt den Boden entzieht und sich davon abwendet, lohnt es sich, ein zweites Mal hinzuschauen. Denn nur weil man der untersten Prämisse nicht zustimmt, heisst das nicht notwendigerweise, dass das ganze Argument für den Eimer ist.
Schauen wir uns dazu an, wie Friedrich Nietzsches für die Entstehung von Sprache bzw. Bewusstsein argumentiert. Ganz grob zusammengefasst erklärt Nietzsche im fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft, dass der Mensch von Natur gefährdet sei. Deshalb brauche der Mensch Schutz und Hilfe von seinesgleichen. Um sich gegenseitig in der Notlage zu unterstützen und Frieden zu schliessen, müsse sich sich der Mensch mit seinem Gegenüber verständigen können. Um zu wissen, was einem fehlt (Bewusstsein) und dies zu kommunizieren (Sprache) brauche der Mensch Mitteilungszeichen. Das lässt sich schematisch ungefähr so darstellen:
Mitteilungsfähigkeit
↑
Mitteilungsbedürfnis
↑
Not des Individuums
Wenn man das Argument auf diese abstrahierte Weise betrachtet, so fällt auf, dass sich der Gedankengang darauf stützt, dass zu Beginn eine Gefährdung des Menschen vorhanden ist. Dieser Prämisse muss man aber nicht zustimmen. Ja, man kann sogar sehr gute Gründe dafür aufführen, weshalb die Notlage des Individuums Schwachsinn sei. Sollte deshalb aber das ganze Argument verworfen werden? Nicht unbedingt. Denn allenfalls kann die unterste Prämisse einfach durch eine andere ersetzt werden.
Nehmen wir deshalb mal an, der Mensch wäre von Natur aus nicht gefährdet. Trotzdem ist es vorstellbar, dass etwas anderes zu einem Mitteilungsbedürfnis führen könnte. So wäre es zum Beispiel denkbar, dass das Individuum durch Einsamkeit Verständigungsmöglichkeiten mit seinen Mitmenschen suchte. Setzt man also anstelle der Not die Einsamkeit an unterster Stelle ein, so scheint das Argument ziemlich stabil zu bleiben:
Mitteilungsfähigkeit
↑
Mitteilungsbedürfnis
↑
Einsamkeit des Individuums
Genauso gut ist es möglich, die unterste Prämisse nicht mit einem konkreten Zustand zu benennen, sondern die generelle Veranlagung des Menschen für die Entstehung eines Mitteilungsbedürfnisses verantwortlich zu machen. Und auch hier scheint der Turm kaum ins Wackeln zu kommen:
Mitteilungsfähigkeit
↑
Mitteilungsbedürfnis
↑
Psychologische Veranlagung des Individuums
Das Ziel dieser Ausführung war es nicht, Nietzsches Argument in Frage zu stellen, sondern zu zeigen, dass die Struktur eines Arguments unter Umständen flexibler ist, als man es zu Beginn vermutet. Nur weil man einer Prämisse nicht zustimmt, muss nicht sofort alles verworfen werden. Vielleicht lässt sie sich ganz einfach ersetzen. Und der Turm bleibt stehen.
Bild: Wooden constructions – Columns and aedicules from Histoire de l’art égyptien (1878) by Émile Prisse d’Avennes – Quelle.