Wenn Worte dem Inhalt im Weg stehen

Geschriebenes

«Weshalb musste der Autor diesen Begriff verwenden? Was bedeutet jenes Wort schon wieder? Hätte man das nicht einfacher sagen können? Möchte er mit dieser Formulierung seinen Intellekt demonstrieren oder sein Argument ausführen? Ich glaube ich gebe auf.» Als Literaturstudent sitze ich regelmässig – die Händen vor dem Kopf – vor Forschungsartikeln und zweifle an mir selbst sowie dem ganzen Forschungszweig überhaupt. Der Grund dafür: die Sprache.

In den Geisteswissenschaften werden am laufenden Band Begriffe kreiert und mit Bedeutung aufgeladen. Der Fachjargon ist derart abstrakt wie spezifisch, dass nur noch Gleichgesinnte die verwendeten Worte überhaupt entschlüsseln können. Wem die Worte nicht bekannt sind, dem bleibt der Inhalt des Textes verborgen. «So sind halt akademische Disziplinen», könnte man erwidern. «Das gehört dazu.» Nein, das muss es nicht.

Auf dem Jupiter wütet seit mehreren Jahrhunderten ein gewaltiger Sturm, der durch das Teleskop wie ein grosser roter Fleck aussieht. Die wissenschaftliche Bezeichnung des Antizyklons lautet entsprechend ganz einfach Jupiters «Grosser Roter Fleck». Im Universum gibt es Galaxien (z.B. die Andromedagalaxie) mit einer Spiralform. Solche Galaxien werden «Spiralgalaxien» genannt. Selbst «Gravitation» stammt vom Lateinischen gravitas (dt. Schwere) ab und bezeichnet die gegenseitige Auswirkung von schweren Körpern. Und ja, «Big Bang» (oder «Urknall» auf Deutsch) ist der offizielle Name für die Geburt des Universums.

Der Wortschatz des Forschungsfeldes der Astrophysik ist konkret. Das bedeutet nicht, dass Astrophysik einfach ist. Keinesfalls! Aber die Bezeichnungen und das Bezeichnete stehen in einer nachvollziehbaren Beziehung. Komplexität entsteht erst durch die Syntax – die Relationen zwischen den verschiedenen Begrifflichkeiten. Die Worte stehen dem Inhalt nicht im Weg.


Um meine Gedanken nachzuvollziehen, hier einen Ausschnitt aus einem Aufsatz zur Herausgeberfiktion in Goethes Die Leiden des jungen Werthers, zu dem ich ein Referat gehalten habe:
«Die traditionelle Form der Au­thentizitätssuggestion, die darauf abhebt, die Echtheit des Materials zu fingieren, interferiert mit der Authentifizierung der Schriftstücke durch die emotionalen Le­seeindrücke ihrer Rezipienten. Die auf den logischen Status des Textes bezogene Frage ‹fingiert (oder nicht fingiert?)› wird durch die affektrhetorische und damit im weitesten Sinne rezeptionsästhetische Frage ersetzt, ob die Gefühle, die der Text beim Leser auslöst, ‹echt› sind. Das heißt, an die Stelle der logischen ‹Konfusion› von Rahmen – etwa in Form des performativen Widerspruchs – tritt die ‹paradoxale Logik› des Gefühls. Dabei birgt der Rekurs auf das Gefühl durchaus fikti­onstheoretische Implikationen: Dem Gefühl wird im Empirismus eine analoge Funktion zugeschrieben wie dem ebenendifferenzierenden Fiktivitätsbewußtsein.» (Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. München: Fink, 2008. S. 240-241)

Als Inspiration diente Karl Poppers Wider die grossen Worte – Ein Plädoyer für intellektuelle Redlichkeit von 1971.


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