Nietzsche oder die Aufgabe der Philosophie
Geschriebenes
Man darf von Nietzsche halten, was man will. Er war ein Charakterkopf. Ein Kuriosum. Ein Meister der Sprache mit einem scharfen Intellekt, einer fragwürdigen Motivation, einer problematischen psychologischen Verfassung und einem tiefschwarzen Duktus.
Doch worüber sich nicht streiten lässt, ist die unmittelbare Wirkungsmacht von Nietzsches Gedanken. Seinen Texten gelingt es – unabhängig davon, ob man dem Inhalt zustimmt oder nicht –, den Lesenden innerhalb weniger Abschnitte nicht nur wachzurütteln, sondern seine ganze Weltsicht auf den Kopf zu stellen.
Und ohne es explizit zu thematisieren, stellen so Nietzsches Texte indirekt die Frage neu, was Philosophie eigentlich tun und leisten könnte (oder sollte):
- Ist Philosophie dazu da, jemanden so lange zu Tode zu argumentieren, bis dieser mit dem Kopf nickt (oder klein beigibt, weil er keine Lust mehr hat)?
- Oder soll Philosophie – wie in Nietzsches Fall – irritieren, Aufsehen erregen und eine Auseinandersetzung in Gang setzen?
Ausschnitt aus dem ersten Kapitel von Friedrich Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne von 1896:
Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse es wissen, was die Menschen den »Ton« nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das rätselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge. […] Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.
Bild: The Ancient of Days Setting a Compass to the Earth, Frontispiz zu William Blakes Europe: a Prophecy, 1794. (Quelle)
Comments
Comments are closed.