Camus und der Zweck von (un)wahren Geschichten | Literaturbrocken #13
Geschriebenes
Albert Camus’ Der Fall (franz. La Chute, 1956) ist im Grunde ein einziges, großes Geständnis. Im Verlauf der 120-seitigen Beichte des Protagonisten rücken aber überraschenderweise nicht die Einzelheiten seiner Vergangenheit und seines Charakters in den Vordergrund, sondern die Artikulation derselben. Denn wie der «Bußrichter» Clamence erwägt, spielt es vielleicht gar keine Rolle, was vorenthalten, ausgeschmückt oder entblößt wird. Im Akt des Erzählens erzähle man nämlich immer sich selbst mit:
Nein, ich scherze nicht, oder nur halb. Ich weiß, dass Sie denken, es sei recht schwierig, in meinen Worten Wahr und Falsch zu unterscheiden. Ich muss gestehen, dass Sie nicht unrecht haben. Ich selber … Sehen Sie, ein Bekannter von mir pflegte die Menschen in drei Gruppen einzuteilen: die einen möchten lieber nichts zu verbergen haben haben als lügen müssen; die anderen möchten lieber lügen als nichts zu verbergen haben; und die Dritten schließlich lieben das Lügen und das Verbergen gleichermaßen. Ich überlasse es Ihnen, die Kategorie zu wählen, in die ich am besten passe.
Was tut’s übrigens? Bringen die Lügen einen nicht letzten Endes auf die Spur der Wahrheit? Und zielen meine Geschichten, die wahren so gut wie die unwahren, nicht alle auf den gleichen Effekt ab, haben sie nicht alle den gleichen Sinn? Was hat es da zu besagen, ob ich sie erlebt oder erfunden habe, wenn sie doch in beiden Fällen bezeichnend sind, was ich war und was ich bin? Man durchschaut den Lügner manchmal besser als einen, der die Wahrheit spricht. Die Wahrheit blendet wie ein grelles Licht. Wohingegen die Lüge ein milder Dämmerschein ist, der jedem Ding Relief verleiht. (S. 139-140)
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Literatur: Camus, Albert: Der Fall. Aus dem Französischen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg 2014.
Bild: Dream from The Loyal Man in the Moon (1820) publiziert von Hone William – Quelle.
Anmerkung: Für die Auseinandersetzung mit einer pragmatischen Position gegenüber dem Lügen kann ich Sam Harris’ Lying (2013) wärmstens empfehlen.