Dostojewski oder das Abstrakte und das Konkrete | Literaturbrocken # 18
Geschriebenes
Stell dir ein Gesicht vor; das Gesicht des schönsten Menschen, der dir in den Sinn kommt. Stell es dir vor, ganz genau, jedes Detail davon: die triefenden Poren auf dem Nasenrücken, den schlabbrigen Fleischfetzen, der unter der Ohrmuschel baumelt und die grauenerregenden Blutgefäße, welche unter einer glitschigen Schleimschicht die prallen Augäpfel zieren. Hast du es vor Augen, das Gesicht des schönsten Menschen, den du kennst?
Ob man nun ein Gesicht seinen Bestandteilen, eine Person ihren Äußerungen oder die Menschheit dem Individuum gegenüberstellt, man spürt man – obwohl die Teile verschränkt sind – ziemlich sicher gegenläufige Gefühle. Interessanterweise ist es aber möglich, das Abstrakte nicht nur trotz der konkreten Abscheu anziehend zu finden, sondern vielleicht genau deswegen (und umgekehrt genauso).
So erscheint auch folgender Bericht von Starez Sossima über das Geständnis eines Arztes, der mir in Fjodor M. Dostojewskis Die Brüder Karamasow ins Auge stach, gleichzeitig total widersprüchlich und als das Natürlichste der Welt:
«Ich liebe die Menschheit», sagte er, «aber ich wundere mich über mich selbst: je mehr ich die Menschen liebe, desto weniger liebe ich den einzelnen Menschen, das Individuum. Wenn ich mich so meinen Träumereien hingab», sagte er, «hatte ich manchmal die seltsamsten Absichten, der Menschheit zu dienen. Ich würde mich vielleicht für die Menschen kreuzigen lassen, wenn das einmal irgendwie nötig wäre – und dabei bin ich außerstande, auch nur zwei Tage mit jemand[em] dasselbe Zimmer zu teilen. Ich weiß das aus Erfahrung. Kaum kommt er mir nahe, verletzt seine Persönlichkeit schon meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. Ein einziger Tag genügt schon, mich den besten Menschen hassen zu lehren: den einen, weil er mittags zu langsam ißt, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich fortwährend schneuzt. Sobald die Menschen mit mir in Berührung kommen, werde ich ein Menschenfeind», sagte er. «Und dabei wurde meine Liebe zur Menschheit bisher desto flammender, je mehr ich die einzelnen Menschen haßte.»
→ Hier geht’s zu allen Literaturbrocken!
Literatur: Dostojewski, Fjodor M.: Die Brüder Karamasow. Roman in vier Teilen und einem Epilog. Übers. von H. Röhl. München 2010.
Bild: Detail aus Nude photography of naked man walking (1880er) von Thomas Eakins, The MET Museum – Quelle.