Der Notizbuch-Zyklus

Geschriebenes

Man nimmt es in die Hand: das neue Notizbuch. Es ist aufregend. Wie sich der makellose Umschlag in den Händen anfühlt. Die unaufdringliche Farbe der leeren Seiten. Der Geruch des Papiers. Alles ist neu. Alles ist frisch.

Mit welchen Gedanken soll es gefüllt werden? Worauf soll man den Fokus legen? Was kommt auf die erste Seite? Dieses? Oder vielleicht jenes? Man schlägt es auf, nimmt den Stift in die Hand und wagt den Versuch. Die erste Seite ist schnell voll. Die nächsten ebenso.

Doch dann wird es harzig. Das Notizbuch hat doch etwas mehr Seiten als erwartet. Die Seiten füllen sich doch nicht so schnell wie gedacht. Die Gedanken sind doch nicht so zahlreich wie zu Beginn vermutet. Man schreibt und denkt und kombiniert und fährt fort und es scheint einfach nicht vorwärtszugehen. Man schleppt das Notizbuch mit. Tag für Tag. Während Wochen. Monate vergehen.

Und plötzlich spürt man den Untergrund beim Schreiben. Plötzlich sind nur noch wenige Seiten weiss. Plötzlich ist das Ende kein abstraktes Konzept mehr. Es kribbelt unter den Fingernägeln. Man ist doch vorwärtsgekommen. Man hat doch etwas geschafft. Und man fragt sich, mit welchem Inhalt dieses Projekt, diese Sequenz, diese Phase des Denkens, Schaffens, Kreierens beendet werden soll.

Dann macht man den letzten Punkt, den letzten Strich und klappt das Notizbuch zu. Man schaut darauf und möchte darin versinken, sich ausruhen, sich selbst auf die Schulter klopfen. Man blättert darin. Es blitzen brilliante Ideen auf. Originelle Umsetzungen. Aussergewöhnliche Gedankengänge. Und man blättert weiter. Und vielleicht sind sie doch nicht ganz so brilliant, nicht ganz so originell und doch nicht so aussergewöhnlich. Da hat man etwas Potential verschenkt. Und dort ist etwas auf der Strecke geblieben. Und es wird einem bewusst, dass es sich dabei nicht um das Ende, sondern nur um den Buchdeckel handelt.

Man legt das volle Notizbuch weg. Man nimmt ein neues. Und beginnt wieder von vorne.


Bild: Weisse Jonquille von Bijutsu Sekai (1893-1896) durch Watanabe Seitei. (Quelle)


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