A oder B?
Geschriebenes
Kontravalenz (ausschliessendes Oder)
Es regnet oder es regnet nicht. Entweder ist die Rechnung bezahlt, oder sie ist es nicht. Der Rhein fliesst in die Nordsee, oder er tut es nicht. Entweder ist die Bombe explodiert, oder sie ist es nicht. Die Katze ist entweder tot oder lebendig (,wobei da Schrödinger wohl noch ein Wörtchen mitreden könnte).
«Oder» in Form einer Kontravalenz impliziert einen kontradiktorischen Gegensatz: Es gilt entweder A oder B. Die Fälle, in denen A und B beide falsch bzw. beide wahr sind, sind widersprüchlich.
Das ausschliessende «Oder» hat einen destruktiven Charakter. Es kommuniziert im Paradigma des Ultimatums. Es provoziert Entscheidungen. Es generiert einen Gewinner und einen Verlierer. Es verursacht einen Abschied und eine Bürde.
Man hat sich an Kontravalenzen gewöhnt. Sobald man irgendwo «Oder» liest, hört oder sagt, gehen im Gehirn die Warnlampen an: Jetzt zählt es. Jetzt teilt sich der Weg. Jetzt kann man etwas falsch machen.
Allerdings ist es selten das, wonach es sich im ersten Moment anfühlt. Wenn man an der Kreuzung die logische Brille aufsetzt, erkennt man, dass es sich meist nicht um die Kategorie der oben genannten Beispiele handelt. Oft geht es nicht um Tod oder Leben, um Detonation oder Blindgang – sondern um eine ganz andere Ausgangslage:
Disjunktion (einschliessendes Oder)
«Oder» als Disjunktion beleuchtet eine andere Perspektive: Es gilt A oder B oder beides. Eine Aussage mit einem einschliessenden «Oder» ist nur dann falsch, wenn sowohl A als auch B falsch sind. A und B schliessen sich gegenseitig nicht aus.
Wieso eine Grenze zeichnen, wo es keine gibt? Weshalb eine Entscheidung erzwingen, wo keine notwendig ist? Wieso den Trigger drücken, wenn ein Kompromiss in Frage kommt?
Das einschliessende «Oder» lässt einen Spielraum für Handlung. Es hinterfragt falsche Dichotomien und schafft einen Nährboden für synergetische Kombinationen.
«Oder» ist nicht gleich «Oder».
Bild: Valentine Greens An Abridgment of Mr Pope’s Essay on Man, ca. 1769. Digital bearbeitet. Credit: Wellcome Collection. (CC BY)