«Homo narrans» oder menschliche Kommunikation als Erzählungen

Geschriebenes

Ich erzähle dir eine Geschichte.

Nein, ich erzähle dir keine Geschichte. Das ist nämlich wahr, was ich dir erzählen werde. Aber erzählen, das muss ich es dir trotzdem. Ja, ich kann gar nicht anders. Oder wie sollten wir sonst kommunizieren, wenn nicht in der Form von Erzählungen?

Diese Geschichte ist eine Geschichte. Sie ist meine Geschichte, denn ich erzähle sie. Würdest du sie erzählen, dann wäre es eine andere Geschichte. Und auch wenn ich dir diese Geschichte nicht jetzt, sondern später erzählen würde, dann wäre es nicht die gleiche Geschichte. Und hätte ich sie bereits erzählt, dann müsste ich sie jetzt vermutlich nochmals, nochmals anders erzählen.

Überhaupt kann ich dir die Geschichte nicht erzählen, ohne dass ich mit der Geschichte mehr erzähle als die Geschichte selbst. Denn um eine Geschichte zu erzählen, muss ich eine Geschichte erzählen können. Das Erzählen braucht, Worte, Hände und Füße, Blicke und Emotionen. Was diese Zeichen bedeuten. Auf was sie sich beziehen. Was sie mittragen. Das erzählt die Geschichte mit.

Und damit du mit der Erzählung etwas anfangen kannst, musst du mit dem Erzählen etwas anfangen können. Die Geschichte ist nur dann eine Geschichte, wenn sie für dich eine Geschichte ist. Geschichten sind nicht einfach, sie sind etwas. Du erkennst sie als etwas. Du hörst sie auf eine bestimmte Weise. Und selbstverständlich hörst du die Geschichte nur dann, wenn du zuhörst.

Also hör zu, was ich dir zu erzählen habe.


«Ich schlage vor, den Menschen neu als homo narrans zu verstehen, dass alle Formen menschlicher Kommunikation als Erzählungen angesehen werden – als symbolische Interpretationen der Welt, die zu bestimmten Zeiten entstehen und durch Geschichte, Kultur und Person geprägt sind; dass spezifische Formen des Diskurses als ‘gute Gründe’, als narrative Rechtfertigungen bestimmter Haltungen und Handlungen betrachtet werden sollten; und dass alle Menschen von Natur aus über eine Erzähllogik verfügen, nach welcher die menschliche Kommunikation beurteilt wird.»

Walter Fisher: Human Communication as Narration. Toward a Philosophy of Reason, Value, and Action.Columbia: University of South Carolina 1987, S. XI; Übersetzung von mir.

Bild: Mode in which the young Memnon’s head, (now in the British Museum,) was removed illustration from the kings tombs in Thebes von Giovanni Battista Belzoni (1778-1823).


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