Die Natur, der Mensch und das Dazwischen – eine Annäherung an das neue Naturverständnis des Anthropozäns

Geschriebenes

In den letzten Jahren ist der Mensch und die Konsequenzen seines Verhaltens in den Mittelpunkt der Diskussion rund um Natur gerückt: Der Finger der Klimaaktivist*innen zeigt auf unseren Konsum, der für den besorgniserregenden Wandel der Natur verantwortlich sei. Man müsse jetzt etwas unternehmen, um die anthropogene Zerstörung des Planeten einzugrenzen!

Die Auffassung vom Menschen als Teil des Naturgeschehens, ist jedoch historisch gesehen eine ziemlich neue Erscheinung. Die Perspektive des Anthropozäns verabschiedet sich damit von einer langen, westlichen Denktradition und zeichnet sich durch ein komplexes Verhältnis zwischen menschlicher Zivilisation und Natur aus. Es lohnt sich deshalb, genauer hinzuschauen, wie sich das Verständnis von Natur verändert hat und welche Auswirkungen auf die Rolle des Menschen dies mit sich bringt.

Das traditionelle Naturverständnis

Die humanistische Denktradition zeichnet sich durch eine klare Trennung zwischen Zivilisation und einer vom Menschen unabhängigen Natur aus. Die Gegenüberstellung einer Menschheitsgeschichte und einer parallel verlaufenden Naturgeschichte lässt sich an drei einflussreichen philosophischen Position illustriert werden:

Bruno Latour hat 1991 darauf hingewiesen, dass diese Separierung allerdings nie wirklich funktionierte. Das Motto und der Titel seines Buches Wir sind nie modern gewesen erhebt Zweifel daran, dass die Trennung zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem in der Praxis festgemacht werden kann:

Wenn man aber von Embryonen im Reagenzglas, Expertensystemen, digitalen Maschinen, Robotern mit Sensoren, hybridem Mais, Datenbanken, Drogen auf Rezept, Walen mit Funksendern, synthetisierten Genen, Einschaltmessgeräten usf. überschwemmt wird, wenn unsere Tageszeitungen all diese Monstren seitenweise vor uns ausbreiten und wenn diese Chimären sich weder auf der Seite der Objekte noch auf der Seite der Subjekte noch in der Mitte zu Hause fühlen, muss wohl oder übel etwas geschehen.

Nach Latour täuscht sich die Moderne insofern, dass keine Grenze zwischen Natur und Kultur gezogen werden kann. Er schlägt vor, sie als Einheit bzw. in Netzwerken und Hybriden zu denken.

Vue du Parc Montsouris, Le Kiosque (ca. 1908–1910) ) von Henri Rousseau.

Eine neue Epoche: Das Anthropozän

Geologische Untersuchungen unterstützen Latours These, dass von keiner ‚natürlichen‘ Natur im traditionellen Sinne mehr gesprochen werden. So lassen sich auf der gesamten Erdoberfläche signifikante, stratigraphische Hinweise für eine neue, durch den Menschen beeinflusste, geochronologische Epoche finden. Die globalen Vorkommnisse von anthropogenen Stoffen im Sedimentgestein, z.B. radioaktive C-Isotope, die bei der Verbrennung von fossilen Brennstoffen entstehen, stellen die Rolle des Menschen im Naturgeschehen in einem neuen Licht dar.

Im Anthropozän (ein Begriff des Atmosphärenforschers und Nobelpreisträgers Paul Crutzen aus dem Jahr 2000) kann die Natur somit nicht mehr als Hintergrund beschrieben werden, vor dem menschliches Leben stattfindet, da Kultur und Natur in eine produktive Interaktion getreten sind.

Die Verkeilung der Natur- und Menschengeschichte im Anthropozän bedingt, dass die traditionelle Dichotomie zwischen unberührter Natur und menschlicher Zivilisation nicht mehr haltbar ist. Der Dualismus von Subjekt und Objekt wird damit aufgebrochen und die Auffassung, dass es sich bei der Natur um stabile Materie handelt, welche (Natur)Gesetzen gehorcht, verabschiedet.

Die Definition von «Natur» im Anthropozän

Das Anthropozän verlangt einen holistischeren Naturbegriff, der die Gesamtheit aller Naturvorgänge und -prozesse umfasst. Neu muss Natur im Sinne der Erdsystemwissenschaften deshalb als System verstanden werden. Es handelt sich dabei um einen selbstregulierenden, planetarischen Gesamtkomplex aus unterschiedlichen Sphären, die zusammen ein instabiles Gleichgewicht bilden.

Das Bretherton-Diagramm ist ein Versuch, die Natur als dynamisches Erdsystem darzustellen. Dabei stehen unterschiedliche, geologische Faktoren – wie die ozeanischen Kräfte aber auch menschliche Aktivitäten – in ständiger Interaktion und gegenseitigen Abhängigkeiten. Die dynamische Gesamtheit der Faktoren bestimmt die planetarische Wirksamkeit von Natur.

Environs de Paris (ca. 1895) von Henri Rousseau.

Die Menschheit als geologische Akteurin

Dass der Mensch die Natur verändert, ist keine grundlegend neue Erkenntnis. Johann Gottlieb Herder hat zum Beispiel in Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784 darauf hingewiesen, dass Kulturen durch das lokale Klima geprägt sind und umgekehrt der Mensch die Klimata seiner Umgebung verändert. Was aber als radikal neu gewertet werden darf, sind die Ausmaße, in welchen der Mensch einen Einfluss auf das Erdsystem ausübt.

Der golden spike des GSSP-Verfahrens in der Geologie macht die planetarische Wirksamkeit des Menschen auf das Erdsystem sichtbar: Die global nachweisbaren Stoffe, welche durch das kumulierte Verhalten der Spezies Mensch entstanden sind, können in den obersten Erdschichten nachgewiesen werden. Einflussreiche Wissenschaftler*innen sind der Meinung, dass die Marker des Anthropozäns distinkt genug sind, um von einer potentiell neuen geochronologischen Epoche zu sprechen.

Dem Menschen wird damit eine Wirkmacht im Erdsystem zugesprochen, die vergleichbar mit Cyanobakterien oder Vulkanismus als geologische Kraft bezeichnet werden darf. Die nachweisbaren Naturveränderungen sind den kumulierten Effekten des menschlichen Verhaltens geschuldet.

Die ökologische Krise

Die Effekte des menschlichen Verhaltens sind allerdings nicht nur auf die CO2-Produktion reduzierbar. Und genauso wäre es ungerechtfertigt, im Rahmen des Anthropozäns bloß von «Klimawandel» zu sprechen.

Wie sich am Beispiel der ökologischen Belastungsgrenzen nach einer Forschungsgruppe um Johan Rockström illustrieren lässt, handelt es sich um eine vielschichtige und komplexe Krisensituation. Die Forschenden aus Stockholm haben in einem Diagramm die verschiedenen Dimensionen der anthropogenen Veränderung des Erdsystems dargestellt. Dazu gehören neben dem Klimawandel z.B. auch chemische Stoffkreisläufe wie Stickstoff oder Phosphor, die Ozeanversauerung, das Artensterben oder die Partikelverschmutzung der Atmosphäre.

In einer überarbeiteten Version wurde eine neue Kategorie mit der Bezeichnung «novel entities» hinzugefügt, die darauf aufmerksam macht, dass zu diesem Zeitpunkt vermutlich noch nicht alle Wirkungsfelder und Konsequenzen des anthropogenen Einflusses identifiziert wurden bzw. werden können. Das Diagramm impliziert, dass es sich bei der Natur um ein volatiles System handelt. Es besteht die Gefahr, dass das Erdsystem aus dem Gleichgewicht gebracht wird, wenn die von der Erde gesetzten Belastungsgrenzen vom Menschen überschritten werden. Diese Vorstellung von Grenzen und Schwellenwerten betont, dass in Bezug auf den anthropogene Einfluss auf die Natur mit keiner linearen Verlaufskurve gerechnet werden darf.

Bouquet de fleurs aux reines-marguerites et aux tokyos (1910) von Henri Rousseau

Die Rolle des Menschen

Mit dem Bewusstsein, dass der Mensch in seinem kumulierten Verhalten eine ökologische Wirksamkeit besitzt, um die Natur global und grundlegend zu verändern, stellt sich eine zentrale Frage: Wie hat sich der Mensch als Element in diesem System zu verorten? Diese Frage ist besonders auch deshalb von Bedeutung, weil sie sich auf die Gegenwart bezieht. Sie stellt die Forderung nach adäquaten Denkweisen und Maßnahmen um der Naturveränderung als Menschheit zu begegnen.

Allein von ‚Menschheit‘ zu sprechen schient nicht unproblematisch. Wie Eva Horn und Hannes Bergthaller in Anthropozän zur Einführung festhalten, treffen zwei Menschenbegriffe aufeinandertreffen. Zum einen ist das der homo, der den Menschen als Kulturwesen beschreibt und das soziale Verhalten des Individuums in einer Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Zum anderen lenkt der Begriff des anthropos den Blick auf einen biologischen Aspekt, welcher den Menschen als eine Spezies unter anderen behandelt. Mit diesen zwei Begriffen wird die bewusste, zielgerichtete Handlungsmacht (agency) des homo der nicht intentionalen Wirkmacht (impact) des anthropos gegenübergestellt. Können aber überhaupt die unbeabsichtigten Nebenwirkungen des ressourcenverschlingenden Verhaltens der menschlichen Spezies mit der Vorstellung von Verantwortung bzw. agency unter einen Hut gebracht werden?

Die Kollision von Skalen

Der Einfluss des Menschen auf die Natur muss über mehrere Größenordnungen hinweg gedacht werden wie Charkrabarty formuliert: «The current conjuncture of globalization and global warming leaves us with the challenge of having to think of human agency over multiple and incommensurable scales at once».

Neben dem Skalenproblem der bewussten individuellen Handlung versus dem kumulierten Verhalten der Menschheit als Spezies, kommt es auch auf einer zeitlichen und einer geographischen Ebene zu einer Verstrickung von unterschiedlichen Größenordnungen. Die Kollision der historischen mit einer geologischen Zeitskala veranlasst eine temporale Spannung, da der Mensch mit seinen Handlungen in der Gegenwart das Erdsystem unumkehrbar oder mindestens über Jahrtausende hinweg verändert. Geographisch gesehen eröffnet sich das Problem, dass der individuelle Konsum, welcher lokal stattfindet, planetarische Folgen nach sich zieht. Die Veränderung bleibt somit auf lokaler Ebene unsichtbar.

Le canal (ca. 1905) von Henri Rousseau

So etwas wie ein (Zwischen)Fazit

Das fiktive Eingangsbeispiel einer Forderung nach Maßnahmen, um die menschliche Zerstörung der Natur zu verhindern, basiert auf dem Naturverständnis des Anthropozäns. Um überhaupt eine Möglichkeit zu diskutieren, das Naturgeschehen zu beeinflussen – negativ wie positiv –, kann nicht mehr von der humanistischen Auffassung einer vom Menschen unberührten Natur ausgegangen werden. Die Natur wird neu als Erdsystem verstanden, welches den Menschen umfasst.

Geologische Untersuchungen zeigen, dass sich in den obersten Erdschichten anthropogene Stoffe nachweisen lassen, welche von einer planetarischen Wirksamkeit des Menschen auf das Naturgeschehen zeugen. Das Erdsystem beschreibt ein instabiles Gleichgewicht, was sich aus der Gesamtheit aller Naturvorgänge und -prozesse, durch die gegenseitige Beeinflussung verschiedener Sphären ergibt.

Der Mensch ist dazu in der Lage, durch sein kumuliertes Verhalten Grenzen und Schwellenwerte zu überschreiten, welche das Erdsystem aus dem Gleichgewicht bringen und unvorhersehbare Folgen nach sich ziehen können. Die Menschheit muss sich die Frage stellen, wie sie sich in diesem System verordnen möchte und adäquate Maßnahmen treffen, um dieser Rolle gerecht zu werden. Dabei stellt sich jedoch bereits die nächste Herausforderung, da im Anthropozän inkommensurable Größenordnungen aufeinandertreffen, was eine Politisierung von Natur und kollektive Handlung enorm erschwert.


Titelbild: Femme se promenant dans une forêt exotique (1905) von Henri Rousseau.


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